An den Schnittpunkten von KI, Energie und Politik investieren
Nach Jahrzehnten hat die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz und erneuerbarer Energien in den letzten Jahren einen enormen Auftrieb erfahren. ChatGPT hatte nach seiner Einführung Ende 2022 die am schnellsten wachsende Nutzerbasis einer Internetanwendung aller Zeiten.1 Dadurch wurde die Welt erst aufmerksam auf den Aufstieg der generativen KI. Der Übergang zu sauberer Energie hat dank Rekordinvestitionen und weltweiter staatlicher Unterstützung an Fahrt gewonnen. Der Wettbewerb um saubere Technologien verschärft sich.2 Der rasante Fortschritt bei KI und sauberer Energie fällt mit den akutesten geopolitischen Bedrohungen seit dem Kalten Krieg zusammen: der Wettstreit zwischen den USA und China eskaliert, in Europa und dem Nahen Osten herrscht Krieg, und es bilden sich neue globale Allianzen.
Anleger erkennen zunehmend, dass KI, saubere Energie und Geopolitik die Weltwirtschaft in den kommenden Jahren prägen können. Wie stark diese Bereiche miteinander verflochten sind, findet jedoch weniger Beachtung. Jared Cohen und John Goldstein von Goldman Sachs erörtern, wie sich die Entwicklungen dieser wichtigen Kräfte überschneiden und welche Chancen und Risiken dabei entstehen.
Wie lautet die Investmentthese, die KI, Energiewende und Geopolitik miteinander verknüpft?
Goldstein: Beginnen wir mit KI und Energie. Die Bearbeitung einer ChatGPT-Anfrage ist im Schnitt deutlich energieintensiver als eine Google-Suche, und in den kommenden Jahren wird die Nutzung generativer KI voraussichtlich noch steigen. Allein das wird bis 2030 dazu führen, dass der Energiebedarf der Rechenzentren, die diesen Datenverkehr verarbeiten, um 160 % steigt.3 Aus Nachhaltigkeitsgründen wäre es wünschenswert, wenn dieser höhere Bedarf mit sauberer, erneuerbarer Energie gedeckt wird. Dazu muss das Stromnetz für den Import und Export sauberer Energie aufgerüstet werden. Versorgungsunternehmen müssen die Erzeugung erneuerbaren Stroms drastisch steigern und eine ununterbrochene Versorgung gewährleisten. Fortschritte bei neuen unterstützenden Technologien wie Hochleistungsbatterien sind notwendig. Gleichzeitig beeinflussen bewaffnete Konflikte weiterhin die Energiepreise und schüren Versorgungsängste.
Das Zusammenspiel dieser Kräfte kann sich unterschiedlich auswirken. Die KI mag das Energiesystem belasten, kann aber auch die Suche nach Lösungen unterstützen, um Rechenzentren und das Stromnetz effizienter zu machen. Durch den enorm gestiegenen Energiebedarf beschleunigt sich unter Umständen der Übergang zu erneuerbaren Energiequellen. Kurzfristig ist es jedoch auch möglich, dass Versorgungsunternehmen leicht verfügbare fossile Energieträger stärker nutzen. Diese wichtigen Fragen stellen sich dort, wo KI, Energie und Geopolitik aufeinandertreffen. Die Herausforderung für Anleger besteht darin, diese Wechselwirkungen und ihre Investmentimplikationen zu verstehen. Anleger, die sich isoliert auf ein einziges Thema konzentrieren, werden Chancen verpassen und Risiken unterschätzen.
Quelle: Masanet et al (2020), Cisco, IEA, Goldman Sachs Global Investment Research, GS SUSTAIN. Stand: 28. April 2024.
Wie wird sich der Energiebedarf durch die KI Ihren Erwartungen nach verändern? Was können Länder tun, um den Bedarf zu decken und der Konkurrenz voraus zu sein?
Cohen: Im ersten Jahr von ChatGPT galt die weltweite Aufmerksamkeit überwiegend dem Mangel an Hochleistungschips und Grafikprozessoren (GPUs). Mittlerweile läuft die Versorgung wieder besser.4 Der Engpass, von dem unsere Kunden heute zunehmend berichten, besteht bei Energie. Diese Systeme sind weitaus energieintensiver als normale CPU-basierte Rechenzentren mit CPU. Ihr Energieverbrauch wird voraussichtlich weiter steigen. Die neuesten Prozessoren (CPUs) verbrauchen bis zu 1200 Watt pro Chip, während es bei der vorherigen Generation 700 Watt waren.5 Prognosen zufolge werden die Workloads in Hyperscale-Rechenzentren in fünf Jahren bis zu 50 % von KI stammen.6 Dies erfordert ein drastisches Umdenken in der heutigen Computing-Landschaft. Hyperscale-Anbieter haben bereits hunderte Milliarden Dollar in den Ausbau investiert.7 Und das ist erst der Anfang.
Es gibt Möglichkeiten, wie die KI Energiesysteme nachhaltiger machen und Ineffizienzen reduzieren kann. Aber um wirklich führend zu sein, brauchen die USA und andere Länder eine umfassende Strategie, die all das abdeckt: Innovation im Energiebereich bei verantwortungsvoller Nutzung heimischer Energiequellen wie Erdgas und erneuerbarer Energien.
Für die KI-Revolution wird zweifellos sehr viel Energie benötigt. Welche Chancen und Herausforderungen kann diese drängende Nachfrage für Anleger schaffen?
Goldstein: Bei der Suche nach Investmentmöglichkeiten sollten die Bereiche identifiziert werden, in denen Innovation und Wachstum für den Erfolg des gesamten Unternehmens unerlässlich sind. Die KI kann sich nur entwickeln, wenn deutlich mehr Strom verfügbar ist und dorthin geliefert werden kann, wo er benötigt wird. Das gilt vor allem für erneuerbare Energien. Dazu muss das Übertragungssystem angepasst werden. Führt das zu neuen Übertragungsnetzen oder dezentraler Energieerzeugung? Das ist eine wichtige Frage. Fest steht jedoch, dass das Netz besser genutzt werden muss. Der Netzausbau ist teuer und zeitaufwendig. Daher wird viel an der Optimierung des bestehenden Übertragungsnetzes gearbeitet.
Der Übergang zu sauberer Energie wird alle Aspekte des traditionellen Energiemarktes beeinflussen. Dabei stehen die Versorgungsunternehmen im Mittelpunkt des Geschehens. Traditionell hatten diese Unternehmen eine kaum schwankende Nachfrage und lange Planungszyklen. Werden sie in der Lage sein, sich in Echtzeit an die wachsende Nachfrage anzupassen? Wir sprechen hier von einer Transformation des Sektors. Manche Versorgungsunternehmen fragen sich, ob sie dem drängenden Bedarf nachkommen können. Wird die gestiegene Nachfrage den Ausbau erneuerbarer Energien und der Energiespeicherung beschleunigen? Wird sie innovative neue Quellen sauberer, stabiler Energie vorantreiben? Oder wird sie die Rolle von Erdgas stärken und die Dekarbonisierungspläne von Versorgungsunternehmen bremsen? Bei der Betrachtung dieser Fragen muss man bedenken, dass viele der Hauptakteure hinter dem schnellen Wachstum der KI – die großen Technologieunternehmen – ambitionierte Pläne für saubere Energie haben. Das beeinflusst vielleicht, wie Versorgungsunternehmen reagieren.
Viele Länder wie die USA streben wirtschaftliche Unabhängigkeit an und steigern die heimische Produktion. Hinzu kommt die Deglobalisierung. Wie kann sich das auf die Entwicklung der KI und sauberen Energie auswirken?
Cohen: Die Weltwirtschaft wird zunehmend gespalten. China verfolgt ein Modell der „zwei Kreisläufe“8, um in kritischen Technologien führend und unabhängig zu werden. Der Westen hingegen bemüht sich mehrheitlich um das „De-Risking“ seiner Lieferketten. Man will dabei die eigenen technologischen Vorteile gegenüber China wahren, vor allem in Bezug auf KI. Dieser Trend wird anhalten.
Die Tatsache, dass diese Entwicklung von Anfang an als geopolitisch relevant betrachtet wurde, ist verglichen mit den letzten zwei Jahrzehnten neu. Wir erleben vielleicht eine höhere Nachfrage nach Chips und einen stärkeren Ausbau der digitalen Infrastruktur, weil Regierungen weltweit über resiliente, autarke Lieferketten ein unabhängiges KI-Modell anstreben.
Die wirtschaftliche Spaltung steht in direktem Zusammenhang mit den Trends, die wir bei KI und Energie beobachten. Wenn der Energiebedarf von KI-Systemen weiter steigt, steht die US-Energieinfrastruktur vor einer Herausforderung. Ihr Ausbau erfolgt nicht in Monaten oder wenigen Jahren, sondern dauert Jahrzehnte. Amerika wird diese Probleme bewältigen müssen. Dazu werden Reformen auf Bundes- und Landesebene erforderlich sein, um mit einem nachhaltigeren Kapazitätsausbau Investitionen zu sichern und mehr Tempo zu erreichen.
Goldstein: Letztlich wird die Erfüllung des steigenden Energiebedarfs mit sauberer Energie durch geopolitische Faktoren beeinflusst. Wenn die USA ihre Wirtschaft weiter von China entkoppeln und den Einkauf aus China erschweren, entsteht dann eine robuste Alternative? Das soll mit dem Inflation Reduction Act erreicht werden. Die Entscheidung, die Produktion im eigenen Land wieder aufzubauen und günstigere Produkte aus anderen Ländern zu blockieren, kann auch die Inflationsdynamik beeinflussen. Das gilt besonders für saubere Energie.
Weltweit entwickeln sich die KI und saubere Energie mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Wie wird sich das darauf auswirken, wo Investmentmöglichkeiten entstehen?
Goldstein: Anfangs war nachhaltige Produktion oft dort angesiedelt, wo es einen Wettbewerbsvorteil durch reichlich verfügbare, stabile und kostengünstige saubere Energie gab. Ein Beispiel ist der Norden Schwedens. Dort sind zwei der weltweit größten Industrieprojekte zur Produktion von Batterien und grünem Stahl entstanden, hauptsächlich weil es dort reichlich günstigen Strom aus Wasserkraft gibt. Ein Technologieriese prüft derweil die Nutzung von Kernenergie für Rechenzentren. Sobald alle vorhandenen Quellen für saubere Energie genutzt werden, verlagert sich der Fokus möglicherweise auf Stromverbundleitungen, die den Import und Export von Strom ermöglichen.
Cohen: Um die Kraft der KI nutzen zu können, muss die Infrastruktur in einer nie dagewesenen Größenordnung ausgebaut werden. Der enorme Umfang des Vorhabens birgt aber auch riesige Chancen. Wem das gelingt, der wird vielleicht das Wirtschaftswachstum, die Geopolitik und den Fortschritt über Jahrzehnte bestimmen.
Die Betreiber von KI-Rechenzentren sorgen sich momentan weniger über den Strompreis als über die Zuverlässigkeit und Menge des verfügbaren Stroms. Wenn KI-Chips genutzt werden, decken sie einen Großteil der Betriebskosten eines Rechenzentrums. Werden sie jedoch nicht ausgelastet, kann die Ausfallzeit für die Betreiber teurer sein als extreme Energiepreisspitzen.9 Dies ist eine Herausforderung, wenn diese Systeme ausschließlich mit erneuerbarer Energie wie Solar- und Windkraft betrieben werden sollen. Es gibt Jahres- oder Tageszeiten, in denen keine Wind- und Solarenergie produziert werden kann. Das stellt Rechenzentrumsbetreiber, die nur erneuerbare Energien nutzen möchten, vor eine große Herausforderung.
Das Problem der Energieversorgung lässt sich unseres Erachtens vorerst nur mit hybriden Lösungen bewältigen. Für das Trainieren der nächsten Generation an großen Sprachmodellen werden Rechenzentren mit einem Stromverbrauch im Gigawatt-Bereich gebraucht. Das wirft die wichtigen Fragen auf, wer sie bauen wird und wo. Die USA sind gut aufgestellt, brauchen jedoch schnell neue Stromkraftwerke.
Die meisten Menschen leben inzwischen in einem Land mit einer nationalen Strategie für die Entwicklung der KI. Viele Länder haben auch einen Plan für saubere Energie. Diese beiden Revolutionen werden jedoch nicht überall die gleichen Auswirkungen haben. In Industrieländern wird beispielsweise im Schnitt mit größeren Produktivitätsgewinnen durch die Einführung von KI gerechnet als in Schwellenländern.10 Gibt es Bedenken, dass KI und saubere Energie zu mehr Ungleichheit führen können? Wie beeinflusst das möglicherweise ihre Entwicklung?
Cohen: Durch den Energiebedarf neuer KI-Systeme kann sich die Kluft zwischen Industrie- und Entwicklungsländern vergrößern. Das liegt daran, dass die neuen leistungsstarken Gigawatt-Rechenzentren überwiegend in sehr fortschrittlichen Ländern wie den USA oder in Schwellenländern angesiedelt sein werden, die über enormes Kapital sowie Energie- und regulatorische Flexibilität verfügen. Das ist beispielsweise in den sunnitischen Golfstaaten der Fall.
Generell werden sich die Investitionen weiter in Industrieländer verlagern. Die Kluft zwischen dem Energieverbrauch von Industrie- und Entwicklungsländern kann dadurch größer werden. Diese Divergenz ist jedoch nicht unumgänglich. Viele Länder werden vermutlich versuchen, zur Bewältigung dieser Herausforderungen neue Technologiepartnerschaften einzugehen, unter anderem auch im Globalen Süden. Microsoft und G42, ein Technologiekonzern in den Vereinigten Arabischen Emiraten, arbeiten beispielsweise mit der kenianischen Regierung zusammen, um ein Geothermie-Rechenzentrum in dem ostafrikanischen Land zu bauen.11
Goldstein: Wenn die Nachfrage nach KI und eine unzureichende Energieversorgung zu einem Anstieg der Energiepreise führen, leiden darunter besonders die einkommensschwachen Haushalte. Das wird vermutlich in keinem Land der Welt politisch tragbar sein, besonders jedoch nicht in Ländern, die bereits mit hoher Inflation kämpfen. Die KI birgt das Potenzial, die globale Wirtschaftsleistung zu steigern12, allerdings nicht überall gleichermaßen. Wenn Aufgaben automatisiert werden, ist das für viele Arbeitnehmer ein Vorteil. Sie können dann in besser bezahlte Jobs wechseln. Es besteht jedoch auch das Risiko, dass manche dieser Arbeitnehmer in der New Economy keine neue Arbeit finden. Das kann die Weiterentwicklung von KI und sauberer Energie begrenzen.
1 Reuters. Stand: 2. Februar 2023.
2 BloombergNEF. Stand: 30. Januar 2024.
3 Goldman Sachs Global Investment Research. Stand: 14. Mai 2024.
4 CNBC. Stand: 27. Juli 2023.
5 Forbes. Stand: 20. Juni 2024.
6 Structure Research, JLL, CBRE, Forschung und Analyse von EY-Parthenon.
7 Fortune. Stand: 30. April 2024.
8 Financial Times. Stand: 16. Dezember 2020.
9 SemiAnalysis. Stand: 4. Dezember 2023.
10 Goldman Sachs Global Investment Research. Stand: 13. Mai 2024.
11 Microsoft. Stand: 22. Mai 2024.
12 Goldman Sachs Global Investment Research. Stand: 5.April 2023.