Handelsrouten richten sich neu aus: Von Integration zu Fragmentierung
Globale Fragmentierung
Das Ende der Globalisierung, wie wir sie kennen
Der freie Fluss von Waren, Kapital, Menschen und Ideen über Landesgrenzen hinweg hat die Nachkriegswelt entscheidend geprägt. Nach Jahrzehnten des Wirtschaftswachstums scheint die alte Ära der Globalisierung, die ihren Höhepunkt rund um die Finanzkrise erreicht hatte, nun vorbei zu sein. Unter dem Einfluss der globalen Pandemie, des russischen Kriegs gegen die Ukraine, von Spannungen im Nahen Osten und Wettbewerb zwischen den geopolitischen Großmächten – insbesondere den USA und China – hat eine neue Phase des internationalen Handels begonnen.
Die Umkehr der globalen Integration hin zu stärker fragmentierten Handelsbeziehungen unter gleichgesinnten Partnern hat ein neues Vokabular wie „Reshoring“, „Nearshoring“ oder „Friendshoring“ entstehen lassen. Allein 2023 wurden diese Begriffe in mehr als 20.000 Mitteilungen von US-Unternehmen verwendet.1 Angesichts steigender geopolitischer Konflikte und Spannungen wird die Lieferketten-, Ressourcen- und nationale Sicherheit voraussichtlich auch in den kommenden Jahren obersten Stellenwert für Regierungen und Unternehmen haben.
Realität statt Rhetorik
Auf die Frage, wo Produktionsstätten errichtet und Lieferketten neu konfiguriert werden, müssen Unternehmen neue Antworten finden. Und das tun sie bereits. Seit der Handelskonflikt zwischen den USA und China 2018 begann, haben sich die Handelsbeschränkungen für Waren, Dienstleistungen und Investitionen mehr als verdreifacht. Sogar angedrohte Standortentscheidungen werden realisiert.2 In dieser neuen Dynamik sinkt Chinas Anteil an der US-Produktion zugunsten anderer Partner wie Lateinamerika und vor allem Mexiko aufgrund der geografischen Nähe (Nearshoring). Auch verlässliche asiatische Handelspartner wie Indien (Friendshoring) profitieren. Das Nearshoring und Friendshoring von Produktionslinien steht noch am Anfang und wird sich mit dem Ausbau von Industriekapazitäten und Fertigungsnetzwerken vermutlich intensivieren.
Quelle: US Census Bureau und Goldman Sachs Asset Management. Stand: August 2024. Aktuellste Daten vom Juni 2024. Die Zahlen sind saisonal bereinigt. Die bisherige Wertentwicklung ist kein Indikator für zukünftige Renditen und bietet keine Garantie im Hinblick auf zukünftige Ergebnisse, die Schwankungen unterworfen sein können.
China baut als Reaktion auf steigende Kosten und zunehmende Handelskonflikte seine eigenen Lieferketten um. Festlandchinesische Unternehmen verlagern ihre Produktion zunehmend in Länder, die wirtschaftlich wie geopolitisch als vertrauenswürdig gelten, wie Kambodscha und Vietnam. Bei anhaltenden Handelskonflikten dürfte sich dieser Trend fortsetzen. Darüber hinaus entwickelt sich seit Beginn des Russland-Ukraine-Konflikts zunehmend eine breite Teilung der globalen Handelsflüsse entlang geopolitischer Linien.
Quelle: Welthandelsorganisation (WTO), Trade Data Monitor und Goldman Sachs Asset Management. Stand: Mai 2023. Die Zahlen sind saisonal bereinigt. Die komplette Klassifizierung der Volkswirtschaften in die hypothetischen Ost- und Westblöcke finden Sie unter folgendem Link: (ersd202310_e.pdf (wto.org), auf den Seiten 17 und 18. Die Ukraine wurde aufgrund des Krieges ausgenommen.) Die bisherige Wertentwicklung ist kein Indikator für zukünftige Renditen und bietet keine Garantie im Hinblick auf zukünftige Ergebnisse, die Schwankungen unterworfen sein können.
Mit Maßnahmen der Lieferketten-, Ressourcen- und nationalen Sicherheit verstärken Regierungen den Trend zur globalen Fragmentierung. In den USA schafft der CHIPS and Science Act finanzielle Anreize und Förderungen für den Bau heimischer Halbleiterfabriken. Andere Gesetze wie der Inflation Reduction Act sollen den Ausbau erneuerbarer Energien sowie die Nutzung emissionsarmer Fahrzeuge, Gebäude und Produktionsstätten beschleunigen. In Europa ergänzt der REPowerEU-Plan den Green Deal mit Maßnahmen, die die Abhängigkeit von russischem Gas reduzieren und Investitionen in erneuerbare Energien durch den Green Industrial Action Plan fördern sollen. Ein zentraler Bestandteil ist der Critical Raw Materials Act (CRMA), der einen Rahmen zur Gewährleistung einer sicheren und nachhaltigen Versorgung mit kritischen Rohstoffen schafft. Staatliche Initiativen wie diese in Europa und den USA eröffnen Chancen für Unternehmen, die Lücken zu schließen, die durch ein zunehmend fragmentiertes geoökonomisches Umfeld entstehen.
Wirtschaftliche Kosten und Konsequenzen
Barrieren und Abkopplung
Jahrzehntelang wirkte die Globalisierung wie ein Wachstumsmotor. In vielen Ländern stiegen die Einkommen, während die Armut zurückging, die Warenpreise fielen und das Angebot zunahm. Davon profitierten vor allem einkommensschwache Haushalte. Die Entkopplung des internationalen Handels bedroht diese Fortschritte. Die Fragmentierung der Wirtschaftspolitik beispielsweise erschwert es Ländern, ihre Klimaziele zu erreichen. Ein weniger abgestimmtes Vorgehen gegen Gesundheitsgefahren wie große Pandemien kann zu höheren menschlichen und finanziellen Kosten führen und die Herausforderungen der demografischen Alterung noch verschlimmern. Aufgrund digitaler Barrieren und Abkopplungen entstehen möglicherweise unterschiedliche Technologie- und Talentökosysteme. Das kann zu einer ungleichmäßigen Entwicklung und Anwendung von Künstlicher Intelligenz und zu neuen, komplexen Cybersicherheitsrisiken führen.
Wie hoch die Kosten der Fragmentierung sein werden, hängt davon ab, welche geopolitischen oder wirtschaftlichen Blöcke entstehen und wie sie sich zusammensetzen, welche Handelsschranken errichtet werden und ob Lieferanten Produktionsfaktoren ersetzen können. Die meisten Studien kommen jedoch zu dem Schluss, dass die globale Fragmentierung unter dem Strich zu höherer Inflation, einer strafferen Geldpolitik – sofern die Inflationsziele unverändert bleiben – und einem niedrigeren, ungleichmäßigen Wirtschaftswachstum führen wird.
Quelle: Internationaler Währungsfonds (IWF), Welthandelsorganisation, Vox EU CEPR und Goldman Sachs Asset Management. Nur zur Veranschaulichung. Die Schätzungen der langfristigen Verluste (% BIP) durch die globale Handelsfragmentierung stammen aus verschiedenen Studien. Die Zahlen beziehen sich auf BIP-Verluste, die in den einzelnen Arbeiten nicht direkt vergleichbar sind, da einige das globale BIP betreffen, während andere sich auf spezifische Regionen oder Länder beziehen. „Strategische Entkopplung“ beschreibt ein Szenario, in dem die Handelsfragmentierung darauf beschränkt ist, dass der Handel zwischen Russland einerseits und den USA bzw. der EU sowie der Handel in Hochtechnologiesektoren zwischen China und den USA bzw. der EU ganz eingestellt wird. Die im vorliegenden Dokument enthaltenen Konjunktur- und Marktprognosen dienen zu Informationszwecken und gelten zum Datum des vorliegenden Dokuments. Es gibt keine Gewähr dafür, dass die Prognosen auch tatsächlich eintreffen.
Die Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum nehmen offenbar mit dem Grad der Fragmentierung zu. Mit anderen Worten: Mehr Handelsschranken führen zu weniger Wachstum. Eine technologische Entkopplung scheint die Verluste durch Handelsbeschränkungen deutlich zu erhöhen, da die Produktivität stark vom Zugang zu Technologien, Wissen und Prozessen abhängt. Darauf wird sich die Welt einstellen. Dennoch kann die technologische Entkopplung langfristig zu weniger effizienten Ergebnissen führen, selbst wenn strukturelle Wachstumsfaktoren wie die Nachfrage nach Halbleitern und Digitalisierung bestehen bleiben. Die Verlagerung der Produktion aus kostengünstigen Ländern in geografisch oder geopolitisch nähergelegene, aber teurere Länder ist nicht billig. Andere weniger offensichtliche Kosten müssen ebenfalls beachtet werden. Einige Schwellen- und Niedriglohnländer können auch durch den Verlust an Wissenstransfer gefährdet sein. Ein breiter Deglobalisierungstrend kann Volkswirtschaften auf lange Zeit vor Herausforderungen stellen. Davon wird jedoch nicht jede Volkswirtschaft gleichermaßen betroffen sein. Im Gegenteil: Einige Länder profitieren bereits von der Neuausrichtung der Lieferketten. Am auffälligsten ist dieser Wandel bislang in den USA.
Investieren in einer geteilten Welt
Industrielle Erneuerung
Während die Fragmentierung ein Risiko für die Weltwirtschaft darstellt, entfacht das Reshoring (die Rückverlagerung der Produktion) vor allem in den USA, aber auch in anderen Industrieländern eine industrielle Erneuerung. Durch den Wiederaufbau der US-Produktion und wirtschaftliche Unabhängigkeit entstehen einzigartige langfristige Investitionsmöglichkeiten. Davon sind besonders Unternehmen betroffen, die von politischen Maßnahmen zur Stärkung der Lieferketten-, Ressourcen- und nationalen Sicherheit profitieren. Die Privatwirtschaft hat Investitionen in Höhe von 910 Mrd. USD in führende Technologien des 21. Jahrhunderts zugesagt. Die größte Kategorie sind Halbleiter und Elektronik mit 395 Mrd. USD (40 %), gefolgt von 177 Mrd. USD für Elektrofahrzeuge und Batterien sowie 167 Mrd. USD für saubere Energie.3 Parallel dazu verteilte die Biden-Harris-Regierung im Rahmen des überparteilichen Infrastrukturgesetzes bislang 480 Mrd. USD für 60.000 Projekte – von Straßen bis Schienen – an US-Bundesstaaten und -Territorien. Damit soll das verarbeitende Gewerbe unterstützt sowie Unternehmen der Transport und Versand von Waren erleichtert werden.
Quelle: Dodge Data and Analytics, Goldman Sachs Global Investment Research. Stand: 13. September 2024. Wert von Mega-Projekten, die in US-Bundesstaaten und nach Sektoren begonnen wurden (in Mio. USD). US-Bundesstaaten, die bei der Präsidentschaftswahl 2020 republikanisch abgestimmt haben, sind rot schattiert und Bundesstaaten mit Wahlsieg der Demokraten blau. „Mega-Projekt“ bezeichnet Projekte im Wert von über 1 Mrd. USD in den Bereichen Halbleiter, Batterie-/Elektrofahrzeugfabriken, Schwerindustrie, Erzeugung sauberer Energie und eine Vielzahl meist öffentlicher Projekte. Unter saubere Energie fallen Projekte für die Herstellung und den Export von Produkten wie Wasserstoff, LNG und Ammoniak. Saubere-Energie-Projekte sind Projekte zur Erzeugung von Wind-, Wasser- und Solarenergie.
Die Produktion hochentwickelter Halbleiterchips ist das prominenteste Beispiel für den Umbau der globalen Lieferketten. Halbleiter sind das Rückgrat der vernetzten Welt und entscheidend für die moderne digitale Wirtschaft. Sie werden für die modernste Technik eingesetzt, von Elektrofahrzeugen über die nächste Generation von Mobilgeräten bis hin zum Internet der Dinge. Über 90 % dieser wichtigen Komponenten werden derzeit in einem einzigen Land hergestellt: Taiwan.4 Anfang 2024 setzte sich die Biden-Regierung ein neues Ziel: Bis 2030 sollen 20 % der weltweiten Hi-Tech-Halbleiterchips in den USA hergestellt werden. Aktuell produzieren die USA 0 % der modernen Chips, die für alles von Mobiltelefonen bis hin zu KI und Quantencomputing essenziell sind.5
Durch die Offshoring-Trends der letzten zweieinhalb Jahrzehnte stagnierte die Industrieproduktion in den meisten Industrieländern. Ein Spiegelbild dieses Trends ist die Halbleiterbranche in den USA. Von 1995 bis 2020 sank der Anteil der USA an der globalen Hochtechnologieproduktion – wie Halbleiter, Präzisionswerkzeuge und Kommunikationsanlagen – um 11 Prozentpunkte.6 Die überlebenden Unternehmen haben hohe Eintrittsschranken errichtet und erleben durch die Rückverlagerung der Produktion in den kommenden Jahrzehnten voraussichtlich eine Wachstumsbeschleunigung. Auch der Bau von Produktionszentren und Lagerhäusern in Industrieländern ist dringend erforderlich. Bis 2021 waren die Bauinvestitionen in diesem Bereich stabil, wuchsen aber nicht, bis der CHIPS and Science Act und der IRA verabschiedet wurden. Seit 2022 erlebt der Sektor ein exponentielles Wachstum. Dazu haben vor allem Produktionsstätten und Rechenzentren mit einem Anstieg um 190 % bzw. 179 % in den letzten drei Jahren beigetragen.7
Quelle: US Census Bureau, Bloomberg, Goldman Sachs Asset Management. Linke Grafik: Daten vom 31. Januar 1994 bis 31. Juli 2024. Rechte Grafik: Daten vom 31. Juli 2021 bis 31. Juli 2024.
Neue Produktionsstätten müssen höchst kosteneffizient, nachhaltig und flexibel sein. Automatisierung und Konnektivität stehen dabei im Vordergrund. Ein breites Universum von Anlagemöglichkeiten bietet der „Grundstock“ der Reindustrialisierung – Unternehmen, die die Fabriken der Zukunft entwerfen, bauen und ausstatten. Sie decken mehrere Wirtschaftszweige ab: Anbieter von Zuschlagstoffen, Hersteller schwerer Baumaschinen, Hersteller von Zement und anderen Baustoffen für Produktionsanlagen, Rechenzentren und Infrastruktur. Wichtige Gase wie Stickstoff, Xenon, Neon und Helium sind essenziell im verarbeitenden Gewerbe. Auch die führenden Unternehmen in diesem Bereich sind gut aufgestellt. Mit steigender Nachfrage rechnen wir außerdem bei Anbietern von Automatisierungslösungen, die industrielle Prozesse optimieren, sicher und zuverlässig machen.
Die Stromversorgung von Rechenzentren erfordert komplexe Verwaltungslösungen. Diese Systeme müssen von zuverlässigen und innovativen Elektronikausrüstern und Softwareanbietern bereitgestellt werden, um eine effektive Produktion und Umweltkontrollen zu gewährleisten. Auch die Anforderungen an die Energieverteilung werden immer komplexer. Anlagenhersteller, die sowohl die Energienutzung vor Ort verwalten als auch den Anschluss an die Netzversorgung sicherstellen, werden eine wichtige Rolle spielen. Rechenzentren, die leistungsstarke KI-Modelle ausführen, benötigen viermal mehr Strom und erzeugen enorme Mengen an Wärme. Hersteller, die auf moderne Kühltechnik oder Lüftungs- und Kühlsysteme spezialisiert sind, werden von diesem Trend profitieren. Im globalen Wandel von Handelsintegration zu Fragmentierung wird wirtschaftliche Sicherheit enorm in den Fokus von Regierungen rücken. Dabei wird es wirtschaftliche Gewinner und Verlierer geben. Anlegern kann die Neuaufstellung der Lieferketten jedoch Investmentchancen an den Aktienmärkten und in unterschiedlichen Sektoren eröffnen.
Fazit
Zu einem Hauptnutznießer der globalen Fragmentierung entwickeln sich die USA, die durch vorteilhafte Gesetze rasch enorme Investitionen in strategischen Sektoren wie Halbleiterproduktion, Elektrofahrzeuge und Energie mobilisieren konnten. Wir sehen auch Chancen in Ländern, die einen Wettbewerbsvorteil in wichtigen Bereichen der globalen Lieferketten haben. Dazu zählt Indien, das dank großer Arbeits- und Verbrauchermärkte, Stärken im Pharmasektor, digitaler Vernetzung und Produktionsanreizen die nächste globale Produktionsdrehscheibe werden kann. Länder wie Mexiko oder Vietnam, die für Nearshoring, Offshoring oder Friendshoring besonders attraktiv sind, können ebenfalls profitieren.
Nicht jedes Unternehmen wird gleichermaßen gewinnen oder sein Geschäftsmodell mit derselben Effizienz an die neuen Anforderungen anpassen können. Aktives Management, das auf gründlichen Fundamentalanalysen basiert, kann die Unternehmen identifizieren, die in Industrie- und Schwellenländern am besten aufgestellt sind, um von diesem kräftigen und langfristigen Reshoring-Trend zu profitieren. Dazu zählen vor allem Unternehmen, die starke Wettbewerbsvorteile aufweisen, innovativ und flexibel sind. Attraktive Aktien und Sektoren sind unseres Erachtens in nach Marktkapitalisierung gewichteten Indizes derzeit unterrepräsentiert. Umso wichtiger ist ein aktives Management für die richtige Positionierung.
1 Bloomberg. Stand: 23. April 2024. In den Daten sind alle Erwähnungen von „Onshoring“, „Reshoring“ und „Nearshoring“ bei Bloomberg, auf Social-Media-Plattformen und in Zeitungsartikeln berücksichtigt.
2 Internationaler Währungsfonds (IWF), Daten von Global Trade Alert. Stand: 25. August 2023.
3 WhiteHouse.gov. Stand: 20. September 2024.
4 McKinsey & Company. Stand: April 2021.
5 US-Handelsministerium. Stand: Februar 2024.
6 McKinsey. Stand: 12. April 2021.
7 US Census Bureau, Bloomberg, Goldman Sachs Asset Management. Stand: 31. Juli 2024.