Eine transformative Heilung: Wie KI das Gesundheitswesen verändern kann

Perspektiven
Dieser Artikel ist Teil unserer Perspektiven Serie
Wichtige Erkenntnisse
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Unserer Ansicht nach wird die Künstliche Intelligenz (KI) das Gesundheitswesen und die Biowissenschaften grundlegend verändern.
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Die KI kann Forschenden dabei helfen, komplexe biologische und physiologische Vorgange zu verstehen, Medikamente kostengünstiger und schneller zu entwickeln und die Qualität neuer Medikamente zu verbessern.
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Im Rahmen dieser Entwicklung dürften die biowissenschaftlichen Unternehmen zur Beschleunigung der Innovationsprozesse Big Data, Large Language Models und große Rechenkapazitäten benötigen. Es ist daher damit zu rechnen, dass sie Partnerschaften mit Technologiefirmen eingehen werden.

Nach dem Digitalisierungsprozess der vergangenen Jahrzehnte „schwimmt“ der Gesundheitssektor in Daten, wie Texten, Bildern, Videos usw. Dank dieses Reichtums an Daten wird die Künstliche Intelligenz (KI) unserer Ansicht nach das Gesundheitswesen und die Biowissenschaften von Grund auf verändern. Die KI kann Erkenntnisse aus Daten auf eine Weise ableiten, die weit über die menschlichen Fähigkeiten hinausgeht – und bietet damit ein bisher unerreichtes Verständnis komplexer biologischer und physiologischer Vorgänge. Mit der Anwendung von KI können neue Medikamente bedeutend kostengünstiger entwickelt und die Wirksamkeit der Medikamente erheblich verbessert werden. 

Amit Sinha, Global Head of Life Sciences bei Goldman Sachs, führte kürzlich ein Interview über die Rolle der KI in den Innovationsprozessen der Biowissenschaften mit Anima Anandkumar, Bren Professor of Computing and Mathematical Sciences am California Institute of Technology und Senior Director of AI Research bei Nvidia.

Die Schwerpunkte Ihrer Forschung verteilen sich über unterschiedliche Gebiete, von der Wettervorhersage über die Medikamentenentdeckung bis hin zur Robotik. Welche Sektoren könnten im nächsten Jahrzehnt die größten Auswirkungen durch die KI erleben?

Wir befinden uns am Anfang einer wirklich spannenden Revolution, die Auswirkungen auf viele verschiedene Bereiche haben wird. Wir alle haben gesehen, dass die KI neue Texte und Bilder erzeugen kann. Sie ist jedoch auch in der Lage, neue Proteine, neue Medikamente, neue Autodesigns und bessere medizinische Instrumente zu erfinden. Aus der heutigen Perspektive scheint quasi nichts unmöglich.

Ein Bereich, wo die KI große Veränderungen bewirkt, ist die Präzisionsmedizin. Allein die Idee, dass die KI dazu verwendet werden kann, bessere Medikamente zu entwickeln und diese dann den richtigen Patienten anzubieten. Können erklärt man, wie das funktioniert?

Seit dem 17. Jahrhundert haben Menschen geforscht, indem sie Experimente durchgeführt haben, und, ob Mäuse oder Menschen, diese Experimente erfordern viel Zeit. Es ist großartig, wenn es funktioniert. Wenn nicht, dann weiß man oft nicht einmal, warum es nicht funktioniert hat, und man fängt von vorn an. 

Was wäre, wenn wir diesen Prozess systematisieren könnten und die Entwicklung eines Medikaments gründlicher erforschen könnten als zuvor? Die KI kann die Gesamtheit dieser physischen Experimente virtuell durchführen. Die reale Welt ist außerordentlich komplex. Wenn man jedoch bei Simulationen zunehmend die richtigen Prognosen stellen und auch die Simulationsfähigkeit beschleunigen kann, wird es uns möglich sein, viele verschiedene Fragen zu beantworten. Wie zum Beispiel, wie gut ein Medikament sich an bestimmte Zielorte im menschlichen Körper schneller und präziser andockt. 

Die Forschung wird dadurch kosteneffizienter und gewinnt an Tempo, da ein Großteil dieser Arbeit auf Rechenkapazitäten beruht und unsere Abhängigkeit von physikalischen Versuchen verringert. Wir werden letztlich jedoch immer noch die physikalischen Versuche brauchen, um unsere Ergebnisse zu validieren. 

Die Kosten für die Genomsequenzierung sinken. Wir können also besser beobachten, wie sich die Zielgenauigkeit von Medikamenten verbessert. Sobald wir die Unterschiede zwischen bestimmten Populationen auf genomischer Ebene ermitteln können, kann man eine bessere Zielgenauigkeit der Medikamente erreichen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir Daten auf der Ebene menschlicher Populationen sammeln, sodass wir diese in unsere KI-Modelle eingeben können. Es geht dabei darum, die Besonderheiten eines Medikaments zu betrachten, indem man einen Datensatz über die Population oder Genetik nimmt und beide miteinander verbindet. Damit kann man feststellen, wer am meisten von diesem Medikament profitieren könnte. All dies fällt in den Bereich von Big Data und da kommt die KI natürlich voll zum Tragen.

Welche Rolle spielt die KI, wenn man bereits vorhandene Medikamente für neue Indikationen verwenden möchte?

Meiner Meinung nach ist es wunderbar, wenn neue Indikationen für alte Medikamente entdeckt werden. Dies ist relativ einfach zu erreichen, da wir bereits über eine Datenbank zu den vorhandenen Medikamenten verfügen, mit Informationen über ihre Sicherheitsprofile und Wirkungsweisen. Ein Großteil der Forschung wurde dazu bereits durchgeführt. Nehmen wir beispielsweise ein Medikament, das für eine Indikation zugelassen ist. Durch KI-gestützte Forschung kann festgestellt werden, dass dieses Medikament auch bei anderen Indikationen einsetzbar ist. Dieses Vorgehen ist bedeutend einfacher und kostengünstiger, als die KI damit zu beauftragen, ein neues Kandidatenmolekül ganz neu zu erfinden.

Wie kann die KI mithelfen, neue Krankheiten zu entdecken und vorherzusagen?

Wir alle wissen, dass Vorsorge besser ist als Heilen. Bis jetzt war dies, mit Ausnahme von guten Ratschlägen zur Veränderung der Lebensweise, jedoch nicht wirklich machbar. Datengestützt ist das jedoch jetzt möglich. Die Apple Watch1 führt beispielsweise regelmäßige Messungen durch und kann diese Daten nutzen, um einen unregelmäßigen Herzschlag zu erkennen. Damit kann sie möglicherweise bei der Früherkennung von Herzinfarkten helfen. 

Einer meiner Kollegen arbeitet z.B. an Schweißsensoren. Diese können durch eine Schweißanalyse Informationen über Diabetes oder andere Krankheiten liefern. Es gibt noch weitere, kostengünstige Sensoren, die gut verfügbar sind, wenig Energie benötigen und die KI zur Erkennung von abnormalen Ereignissen verwenden können. Die KI kann dann Empfehlungen aussprechen oder Hilfe beantragen, wenn es zu einem unerwünschten Ereignis kommt. 

Die Künstliche Intelligenz hilft bereits bei der Früherkennung von Tumoren auf nichtinvasive Weise. Sie führt beispielsweise Ganzkörperaufnahmen erheblich schneller und kostengünstiger durch. Des Weiteren hilft sie bei der Erstellung von Bildern mit höheren Auflösungen, ohne dazu viele Rechnerstunden zu benötigen. Big Data spielt dabei ebenfalls eine Rolle. Wir können uns zum Beispiel Daten auf einer breiten demografischen Ebene anschauen und so entstehende Muster erkennen. Mit deren Hilfe können wir die Frühwarnzeichen für Herzkrankheiten bestimmen.

Was wird aus technologischer Sicht noch benötigt, um die Innovationen weiter voranzutreiben? Haben die Unternehmen denn, was Chips und die Cloud anbetrifft, Zugriff auf die erforderlichen Rechnerkapazitäten?

Die Künstliche Intelligenz benötigt in Wirklichkeit drei Dinge – Daten, Algorithmen und Computerinfrastruktur. Die Datenseite war in einigen Bereichen bisher leicht verfügbar. Beispielsweise sind Texte und Bilder im Internet frei erhältlich. Daher sehen wir die schnellsten Innovationen auch insb. in diesem Bereich. In anderen Bereichen, wie den Biowissenschaften zum Beispiel, geht diese Entwicklung langsamer voran, weil die Daten stark fragmentiert sind. Uns fehlt also die Menge von Daten, bei der sich Muster abzeichnen würden. 

Die KI beschleunigt die Entwicklung von Surrogatmodellen und besseren Simulationen um das Tausendfache. Dabei geht es rein um die Rechenkraft. Daten spielen hier keine Rolle. Manchmal sind die Daten jedoch der begrenzende Faktor. Das wirft die Frage auf, ob man überhaupt genügend Genome hat, um ein Large Language Model aufzubauen? Genau das haben wir im vergangenen Jahr gemacht. Wir haben mit allen bekannten Viren- und Bakteriengenomen ein LLM trainiert. Statt englischer Texte wurde dieses Modell anhand von Nukleotiden trainiert – den Chemikalien, aus denen sich der genetische Code zusammensetzt. Unter Verwendung dieses Modells können wir z.B. neue Hochrisikovarianten des Coronavirus und anderer Infektionskrankheiten prognostizieren, noch bevor diese entstehen. 

Wenn nicht genug Daten vorhanden sind – wie bei Arzneimittelversuchen an Menschen, wo es immer nur eine begrenzte Menge an Daten gibt –, müssen wir versuchen, die vorhandenen Daten sinnvoll zu interpretieren. Dafür benötigen wir bessere algorithmische Techniken.

Wir haben kürzlich die Anbahnung von Partnerschaften zwischen Technologiefirmen und Biotech-Unternehmen beobachtet. Liegt dort die Zukunft der Innovation in den Biowissenschaften?

Das ist eine sehr spannende Entwicklung. Die Technologiefirmen verfügen über großes Fachwissen beim Aufbau großer Computercluster. Sie können darüber hinaus Software- und KI-Frameworks entwickeln, die uns beim Training mit Big Data helfen. Man kann nicht erwarten, dass biowissenschaftliche Unternehmen sich alle entsprechenden Fachleute ins Haus holen, um dieses Fachwissen zu replizieren.

Heute ist das nicht mehr eine Person, die am Computer sitzt, mit einem kleinen Datensatz arbeitet und Open-Source-ML nutzt, um auf diese Weise mit Innovationen aufzuwarten. In der Spitzenforschung der Biowissenschaften wird heute Big Data verwendet. Man baut Large Language Models auf und benötigt sehr große Rechnerkapazitäten. Es ist sehr spezialisiertes Fachwissen notwendig, um diese Modelle zu entwerfen und herzustellen.

Was ist Ihre Empfehlung für biowissenschaftliche Unternehmen, die KI und maschinelles Lernen in Ihre Kern-Innovationsabläufe integrieren wollen?

Ich würde empfehlen, die KI nicht einfach in die Marketingmaterialien aufzunehmen, weil sie gerade modern ist. Das mag für einige spannend klingen, aber Investoren, die wirklich etwas verstehen, durchschauen das sehr schnell. Wenn ein Unternehmen Künstliche Intelligenz einsetzen möchte, dann muss sie richtig in die Unternehmensabläufe integriert werden. Zunächst sollte man erwägen, ob die KI für ein Unternehmen überhaupt von Nutzen wäre. In einigen Fällen ist dies vielleicht nicht der Fall.

 

Nur zur Veranschaulichung. Verweise auf ein bestimmtes Unternehmen oder Wertpapier stellen keine Empfehlungen dar, das betreffende Unternehmen oder dessen Wertpapiere zu kaufen, zu halten oder zu verkaufen oder sich direkt an dem Unternehmen zu beteiligen oder in dessen Wertpapiere zu investieren.