Eine neue Art von Rezession – Die rollende Rezession

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John Tousley
Global Head of Market Strategy, Strategic Advisory Solutions

Es liegt in der menschlichen Natur, unsere Beobachtungen zu klassifizieren und bezeichnen zu wollen. Egal, ob wir etwas als groß oder klein, rot oder blau, rund oder viereckig einstufen – eine solche Klassifizierung kann dabei helfen, die Entscheidungsfindung zu strukturieren und in einen passenden Kontext zu stellen. Aber was machen wir, wenn unsere Beobachtung „mittelgroß, lila, trapezförmig“ lautet? Mitunter können Beobachtungen durch strenge Definitionen nicht genau kategorisiert werden.

In letzter Zeit dreht sich die makroökonomische Debatte um die Wahrscheinlichkeit einer „harten“ oder „weichen Landung“ für die Wirtschaft. Viele Beobachter, die eine Rezession bzw. harte Landung erwarten, deuten auf die inverse Zinsstrukturkurve, die aggressive Reaktionsfunktion der US-Notenbank und düstere Frühindikatoren, um ihre Erwartung einer Rezession zu untermauern. In den USA ist der offizielle Schiedsrichter für den Wirtschaftszyklus das National Bureau of Economic Research (NBER). Das NBER betont, dass eine Rezession einen signifikanten Rückgang der wirtschaftlichen Aktivitäten beinhaltet, der die gesamte Wirtschaft betrifft und länger als nur einige Monate andauert. Eine typische Rezession führt zu einem eher gleichzeitigen und breiten Abschwung, nachdem der zyklische, geldpolitische und/oder finanzielle Druck für die Wirtschaft insgesamt zu hoch wird.

Andererseits gewinnt die Ansicht, dass eine weiche Landung das wahrscheinlichere Ergebnis ist, an Zuspruch. Der Begriff „weiche Landung“ bezeichnet ein Umfeld, in dem die US-Notenbank die Geldpolitik strafft, um die Inflation zu bekämpfen, ohne in den USA eine Rezession auszulösen. Der starke Arbeitsmarkt, robuste Bilanzen im Privatsektor, wachsende Realeinkommen und die Abwesenheit großer systemischer Blasen könnten auf eine mögliche Erholung hindeuten. Das Wachstum bei einer weichen Landung könnte unter dem Trend liegen, um ein makroökonomisches Ungleichgewicht auszugleichen, aber wir erwarten nicht, dass die Abschwächung Ausmaße einer Rezession erreicht. Je nach den eigenen makroökonomischen Erwartungen (harte oder weiche Landung) wird sich die Portfoliozusammensetzung vermutlich unterscheiden. Harte Landungen führen oft zu einer Konzentration auf qualitativ hochwertige Assets oder einer defensiven Reaktion, während weiche Landungen für mehr Geduld mit dem strategischen Plan sorgen.

Zwar sind sowohl die Verfechter einer harten als auch die einer weichen Landung von ihren Theorien überzeugt, aber möglicherweise liegt der tatsächliche wirtschaftliche Ausgang irgendwo dazwischen – in einer rollenden Rezession. Im Gegensatz zu einer gleichzeitigen und breitflächigen Abschwächung oder der gänzlichen Vermeidung eines Abschwungs stellt eine rollende Rezession eine eher gestaffelte Reaktion auf sich wandelnde Dynamiken wie straffere finanzielle Bedingungen, höhere Kapitalkosten und Inflation dar. Als sich die US-Wirtschaft von der Schwerindustrie zur Dienstleistungs- und Finanzwirtschaft gewandelt hat, waren die Auswirkungen auf Geschäftszyklen, Inflation und Geldpolitik ungleichmäßig verteilt.

Im aktuellen Wirtschaftszyklus beobachten wir eine kaskadierende Reihe von Sektoranpassungen. Im Frühjahr 2022 kam es auf dem US-Wohnimmobilienmarkt – der Teil der US-Wirtschaft, der am meisten von Zinssätzen abhängt – zu einem starken Rückgang der Gesamtnachfrage, als der Anstieg der Hypothekenzinsen die Erschwinglichkeit weiter einschränkte. In der Hypothekenbranche sind viele der Meinung, dass der Wohnimmobilienmarkt bereits eine Rezession durchgemacht und hinter sich gelassen hat. In der zweiten Hälfte von 2022 hatten Teile des Konsumgütersektors mit zu hohen Lagerbeständen zu kämpfen, als sich das Konsumverhalten von Waren auf Dienstleistungen verlagerte und sich gleichzeitig die Lieferketten erholten. Im Herbst folgten starke Preisnachlässe und Druck auf die Margen. Kurz danach begannen die erhöhten Kapitalkosten, den IT-Sektor zu belasten, der während des Homeoffice-Trends zu stark expandiert hatte. Häufig war ein Stellenabbau die Folge, aber viele freigestellte Arbeitnehmer fanden relativ schnell eine neue Anstellung. Dann im März 2023 übergab der Technologiesektor den Staffelstab erleichtert an die Regionalbanken, die unter einigen der unerwarteten Folgen höherer Zinssätze litten. Während sich Regionalbanken an ein neues regulatorisches Umfeld mit strengeren Kreditvergabestandards anpassen, setzt sich die Unsicherheit bei Geschäftsimmobilien fort. Diese Sektoren weisen deutliche ökonomische Gemeinsamkeiten auf. Aber viele der vorgenommenen Anpassungen waren bisher idiosynkratischer Art. Unserer Meinung nach ist die Neuausrichtung dieser Branchen nicht systemisch bedeutend genug, um die breitere Wirtschaft anzustecken.

Spezifische Anpassungen

Quelle: Goldman Sachs Asset Management. Stand: 29. September 2023. Nur zur Veranschaulichung.

Andererseits gibt es aber auch viele florierende Sektoren. Wir beobachten eine ausgeprägte Widerstandsfähigkeit in den Bereichen Reise und Freizeit, Gesundheit, künstliche Intelligenz, Mehrfamilienimmobilien sowie Geschäftsimmobilien für Industrie und Lager, um nur einige zu nennen.

Ob die Wirtschaft nun letztendlich eine harte oder weiche Landung hinlegt – eine Rezession könnte zum stärksten antizipierten „nonevent“ seit dem Jahr-2000-Problem werden. Viele Investmentportfolios könnten in Erwartung eines klaren Signals in Richtung einer harten oder weichen Landung schlecht aufgestellt sein. Wir empfehlen Anlegern, davon auszugehen, dass es den Daten nicht an Klarheit mangelt. Sie passen einfach nur schlecht in traditionelle ökonomische Klassifizierungsmuster. Unserer Ansicht nach ist „rollende Rezession“ eine zutreffendere Beschreibung für die vorherrschenden Bedingungen und eine bessere Grundlage für Portfolioentscheidungen.

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John Tousley
Global Head of Market Strategy, Strategic Advisory Solutions