Den richtigen Weg einschlagen, wenn die Zinsen länger höher bleiben
Wenn Ihr Fahrzeug nicht anspringt, weil die Batterie leer ist, kann Anschieben eine nützliche Starthilfe sein. Bei einem Auto die Kupplung kommen zu lassen ist in mancher Hinsicht ähnlich wie der Versuch, für ausreichend Dynamik in einer Volkswirtschaft zu sorgen. Die großen Zentralbanken haben in den letzten Jahren versucht, die Wirtschaft mit enormen Konjunkturpaketen anzuschieben. In erster Linie reagierten sie damit auf die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie, Lieferkettenengpässe und Verwerfungen an den Arbeitsmärkten. Ähnlich wie beim Anschieben eines Autos geht diese Anpassung häufig mit starker Reibung und überraschenden Folgen einher. Dazu zählen beispielsweise Inflation und eine restriktive Geldpolitik. Anleger müssen sich unserer Ansicht nach jetzt auf neue Risiken einstellen, aber auch auf ein breites Spektrum an Chancen freuen. In diesem Artikel erörtern wir einige der potenziellen Auswirkungen für Aktien- und Anleiheinvestoren in einer Welt, in der die Zinsen möglicherweise länger höher bleiben.
Aktien: Unterschiedliche Renditetreiber
Wir rechnen damit, dass der Aktienmarkt in den kommenden Jahren idiosynkratischer und differenzierender wird. Aufgrund der Last höherer Zinsen und Kapitalkosten werden die Chancen der Alphagenerierung voraussichtlich globaler. Um Alpha zu generieren, müssen Anleger auch zunehmend einen Bottom-up-Ansatz verfolgen und sich an der Rentabilität orientieren. Wenn das Geld wie vor der Pandemie billig ist, nehmen Unternehmen häufiger Kredite auf, um ihre Umsätze zu steigern. Ist das Geld aber so wie jetzt teuer, verzichten Unternehmen oft auf höhere Absatzzahlen zugunsten von Gewinnwachstum.
Blick in den Rückspiegel: Aktien-Superzyklen
Seit Ende des Zweiten Weltkrieges gab es wohl drei „Aktien-Superzyklen“ oder lang anhaltende Bullenmärkte – 1945 bis 1968, 1982 bis 2000 und 2009 bis 2020. Jeder Zyklus zeichnete sich durch mindestens eine der folgenden Kombinationen aus: sehr starkes Wachstum, fallende Zinsen oder niedrige Bewertungen bei steigenden Gewinnmargen. Diese Bedingungen waren günstig für starke Renditen an den Aktienmärkten. Aber die Risikoprämien gingen zurück, denn die Risiken im globalen Finanzsystem ließen nach. Neue internationale Institutionen und ein regelbasiertes globales Handelssystem entstanden.
Während des Superzyklus von 1945 bis 1968 wurden der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank gegründet. Dies trug im Rahmen des Bretton-Woods-Geld- und Währungssystems dazu bei, Unsicherheit zu reduzieren. Gleichzeitig wuchs der globale Handel dank besserer institutioneller Rahmenwerke. Das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (General Agreement on Tariffs and Trade, GATT) trat beispielsweise 1948 in Kraft. Die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (United Nations Conference on Trade and Development, UNCTAD), kurz Welthandels- und Entwicklungskonferenz, wurde 1964 gegründet. Die Verhandlungen erreichten bis 1967 Kürzungen der Handelszölle um durchschnittlich 35 bis 40 % auf viele Güter. Zur damaligen Zeit galten sie als die wichtigsten Handels- und Zollverhandlungen, die jemals stattgefunden hatten.
Der nächste Superzyklus begann dann in den 1980er Jahren mit Deregulierungs-, Reform- und Privatisierungswellen in Volkswirtschaften rund um den Globus. In den USA wurde mit dem Economic Recovery Tax Act von 1981 eine einschneidende Steuerreform verabschiedet. Der Spitzeneinkommensteuersatz fiel von 70 % im Jahr 1980 auf 28 % im Jahr 1986. Die Nichtverteidigungsausgaben gingen ebenfalls drastisch zurück. Mehrere Branchen wurden dereguliert, darunter die Luftfahrt oder der Finanzsektor. Ähnliche Reformen fanden in Großbritannien statt. Im Rahmen eines umfangreichen Privatisierungsprogramms wurden viele öffentliche Betriebe wie etwa Versorgungsunternehmen privatisiert. Mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 setzte sich die Neubewertung von Aktien fort. Kurz danach kam es zur Auflösung der Sowjetunion.
Im letzten Superzyklus von 2009 bis 2020 wurde das Aktien-Beta von einer Kombination aus Regulierung nach der Finanzkrise, implizitem Moral Hazard, negativen Renditen und quantitativer Lockerung beflügelt. Der S&P 500 brach von seinem 2007 erreichten Hoch um 57 % ein. Danach setzte eine kräftige Erholung ein, die zum längsten Bullenmarkt der Geschichte führte. Wie schon Anfang der 1990er Jahre war die Stärke der Erholung zum Teil auf das Ausmaß des vorhergegangenen Wirtschafts- und Markteinbruchs zurückzuführen. Zwischen 2007 und 2010 fiel das mittlere Haushaltsvermögen in den USA um 44 % unter das Niveau von 1969. Auch die Aktienkurse stürzten drastisch ab. Die resultierenden günstigen Bewertungen boten deutliches Aufwärtspotenzial, denn eine quantitative Lockerung begann und erleichterte die Finanzierungsbedingungen.
Heute sieht es anders aus
Jeder dieser früheren Betrachtungszeiträume wurde durch Rezessionen, Vermögensblasen und schmerzliche Anpassungen an den Kapitalmärkten unterbrochen. Am Anfang profitierten sie jedoch alle von steigenden Bewertungen und niedrigeren Zinsen. Günstiges Beta reichte für Aktienallokationen aus. Der S&P 500 konnte während dieser Superzyklen starke Renditen verzeichnen. Die Normalisierung der Bewertungen und Margen sowie die immer weiter fallenden Zinsen leisteten den größten Beitrag dazu. Heute sieht es an den Aktienmärkten anders aus: Anleger mögen darüber debattieren, wo wir uns im aktuellen Zyklus befinden, aber an den Kapitalmärkten herrschen schwierige Bedingungen. Sowohl die hohen Aktienbewertungen als auch die hohen Zinsen tragen dazu bei, dass die Kapitalkosten den höchsten Stand seit etwa zehn Jahren erreicht haben.
Bloomberg und Goldman Sachs Global Investment Research. Stand: 31. August 2023.
Die Zinsen sind von einem niedrigen auf ein hohes Niveau gestiegen. Anleger sollten daher einige Faktoren berücksichtigen, die sich auf ihre Aktienpositionierung auswirken können. Erstens werden die Aktienrenditen unserer Ansicht nach nicht mehr auf den in früheren Superzyklen erreichten Stand steigen. Unsere Modelle deuten auf US-Aktienrenditen im Bereich von 8 % in der nächsten Dekade hin.1 Wir sind von einer Welt ohne Alternativen – auch „TINA“ (There Is No Alternative) genannt – für Aktien in ein Umfeld gekommen, in dem es vernünftige Alternativen (There Are Reasonable Alternatives, TARA) wie Investment-Grade-Unternehmensanleihen (IG) und andere hochwertige Anleihen gibt. Zweitens gehen wir davon aus, dass sich die Marktpräferenzen aufgrund des hohen Zinsniveaus vom Umsatzwachstum zur Rentabilität verschieben. Gleichzeitig werden die Performanceunterschiede zwischen makroökonomischen Ausrichtungen nach Sektor, Stil, Größe und Region eventuell weniger extrem und generieren weniger Alpha. Wenn der Einfluss mikroökonomischer Faktoren am Markt zunimmt, können Aktienallokationen vom aktivem Investieren profitieren. Das Potenzial zur Alphagenerierung wird in einzelnen Branchen wie auch branchenübergreifend möglicherweise steigen. Vorangetrieben wird diese Entwicklung durch neue Innovationsbereiche, Disruption außerhalb des Technologiesektors, wachsende Nachfrage durch grüne Investitionen und Neubewertungen durch Künstliche Intelligenz oder Unternehmen, die neue Wachstumsströme erschließen. Zu den sich abschwächenden Renditen kommen potenziell höhere Volatilität und mehr Renditestreuung. Durch einen stärkeren Fokus auf steuerbewusstes Investieren in Aktien besteht die Möglichkeit, gewinnwirksame Einsparungen zu erzielen.
Goldman Sachs Global Investment Research und Goldman Sachs Asset Management. Stand: 31. Juli 2023. Die Grafik zeigt den Anteil der mittleren Aktienrendite des S&P 500 für die vergangenen sechs Monate, der auf Mikro-Faktoren zurückzuführen ist. „Mikro-Faktoren“ bezieht sich auf unternehmensspezifische Risiko- und Ertragsquellen anstelle von Makro-Faktoren wie Markt-Beta, Sektor-Beta, Unternehmensgröße und Bewertung. Die bisherige Wertentwicklung bietet keine Garantie im Hinblick auf zukünftige Ergebnisse, die Schwankungen unterworfen sein können.
Anleihen im Fokus
Unserer Ansicht nach hat der rasante Anstieg der effektiven Verzinsung Anleihen zu neuer Bedeutung verholfen. Anleger können wieder von den potenziellen strategischen Vorteilen von Anleihen profitieren: berechenbare zukünftige Zahlungsströme, effektiver Schutz vor Aktienvolatilität und bessere Renditeasymmetrie.
Berechenbare Zahlungsströme
Die Straffungszyklen der US-Notenbank Fed haben mehr oder weniger vorhersehbare Auswirkungen auf den Anleihemarkt. Sie führen zu einer Invertierung der Zinsstrukturkurve. Auch in diesem Zyklus war das nicht anders. Die kurzfristigen Zinsen sind so schnell wie seit Jahrzehnten nicht mehr gestiegen. Wir gehen davon aus, dass die Fed keine Leitzinsanhebungen mehr beschließt und die Duration von Anleihen mit mittlerer/langer Laufzeit sich günstig entwickelt. Nichtsdestotrotz kann nach einem Verlustjahr die Versuchung groß sein, an einer kurzen Duration festzuhalten. Immerhin liegt die Verzinsung der sechsmonatigen T-Bill bei 5,55 %, während die 10-jährige T-Note mit 4,62 %2 rentiert. Eine „Pause“ der Fed war bisher jedoch ein verlässliches Signal für eine baldige Normalisierung der Zinsstrukturkurve. Das heißt, die längeren Zinssätze werden wieder höher als die kurzfristigen sein. Seit 2000 dauert das Steilerwerden der Zinsstrukturkurve ungefähr 18 bis 24 Monate. Danach wirft der Bloomberg US Aggregate Bond Index etwa die doppelte Rendite des Bloomberg US Aggregate 1-3 Year Index ab. Zu den aktuellen Bedingungen an den Anleihemärkten können sich Anleger unserer Ansicht nach attraktive zukünftige Zahlungsströme sichern.
Bloomberg und Goldman Sachs Asset Management. Stand: 31. August 2023. Die bisherige Wertentwicklung ist kein Indikator für zukünftige Renditen und bietet keine Garantie im Hinblick auf zukünftige Ergebnisse, die Schwankungen unterworfen sein können.
Volatilitätsschutz
Anleihen mit mittlerer Duration bieten unserer Ansicht nach wieder Absicherungspotenzial. Die Fähigkeit einer 10-jährigen US-Staatsanleihe, das Verlustrisiko von Aktien abzusichern, ist unmittelbar mit dem Anstieg der Renditen gestiegen. Angenommen, die Zinsen fallen wieder auf 0 %. In diesem Szenario kann eine 10-jährige US-Staatsanleihe unter sonst gleichen Bedingungen 30 % des Kursverlustrisikos in einem zu jeweils 50 % aus Aktien und Anleihen bestehenden Portfolio absichern. Sie eignet sich also wieder zur Dämpfung des Aktienrisikos. Natürlich halten wir dieses Szenario für unwahrscheinlich. Es erscheint uns dennoch ermutigend, dass Anleihen sich wieder zur Absicherung gegen Tail-Risiken bei Aktien eignen. Es zeigt, dass Anleger jetzt, wo die Renditen höher sind, ihr Portfoliorisiko wieder bewusst erhöhen können.
Bessere Risikoasymmetrie
Viele Anleger verstehen durchaus die Vorzüge einer längeren Duration. Die erhöhten Geldmarktrenditen zeigen unseres Erachtens jedoch, dass nur wenige wirklich wieder zu ihren strategischen Portfoliogewichtungen zurückgekehrt sind. Verglichen mit der Nullzinswelt von 2020 bieten Anleihen jedoch mehr als nur attraktive Renditen: Die Spreads werden sich voraussichtlich etwas einengen und die Korrelation von Aktien- und Anleiherenditen wird sich normalisieren. Außerdem hat sich die implizite Renditesymmetrie bei Anleihen mit mittlerer Duration deutlich verbessert. Das erkennt man an der potenziellen Rendite einer 10-jährigen T-Note, wenn der entsprechende Marktzins um 1 % steigt oder fällt (wie wir in der Grafik „Potenziell bessere Renditeasymmetrie“ zeigen). Mit anderen Worten: Unserer Einschätzung nach werden die heutigen Anleihekurse theoretisch weniger abgestraft, wenn die Zinsen steigen. Vor allem aber werden sie theoretisch stärker belohnt, wenn die Zinsen fallen, was heute wahrscheinlicher ist als in den letzten Jahren.
Bloomberg und Goldman Sachs Asset Management. Stand: 31. August 2023. Diese Beispiele dienen lediglich zur Veranschaulichung. Es handelt sich dabei nicht um tatsächliche Ergebnisse. Falls sich verwendete Annahmen als unzutreffend erweisen, kann eine erhebliche Ergebnisabweichung die Folge sein. Die bisherige Wertentwicklung ist kein Indikator für zukünftige Renditen und bietet keine Garantie im Hinblick auf zukünftige Ergebnisse, die Schwankungen unterworfen sein können.
Gangwechsel
Beim Wechsel von einem Null- zu einem Hochzinsumfeld wird es Gewinner und Verlierer geben. Trotz durchweg höherer Kapitalkosten hat unserer Ansicht nach jedoch kein Sektor genug systemisches Gewicht, um eine gesamtwirtschaftliche Erholung zu beeinträchtigen. Um mit Aktien Alpha zu generieren, halten wir angesichts der höheren Zinsen einen idiosynkratischeren Ansatz für erforderlich. Makroökonomische Faktoren sollten bei der Positionierung eine geringere Rolle spielen. Bei Anleihen sollten Anleger das aktuelle Zinsniveau nutzen, um ihre taktischen Übergewichtungen in bargeldnahen Vermögenswerten abzubauen. Wir ziehen eine neutralere Durationspositionierung im Einklang mit strategischen Vergleichsindizes vor. Anschieben mag ein guter Start sein. Aktien- und Anleiheinvestoren müssen aber vor allem wieder ans Steuer und sich auf eine Welt höherer Zinsen einstellen.
1Langfristige Annahmen von Goldman Sachs Asset Management Multi-Asset Solutions für die Aktienmärkte. Die Annahmen, die das Alpha und den Tracking Error betreffen, spiegeln die Schätzungen von Multi-Asset Solutions für überdurchschnittlich aktive Manager wider und basieren auf einer Studie der historischen Ergebnisse von aktivem Management nach Abzug von Vergütungen. Strategische langfristige Annahmen sind hinsichtlich zukünftiger wirtschaftlicher und Marktfaktoren, die sich möglicherweise auf die zukünftige Wertentwicklung auswirken könnten, in hohem Maße mit Unsicherheit behaftet. Sie dienen als hypothetische Indikatoren eines breiten Spektrums möglicher Renditen. Alle Zahlen spiegeln die strategischen Annahmen von Multi-Asset Solutions zum 30. Juni 2023 wider. Bitte beachten Sie die zusätzlichen Hinweise.
2Zinssätze zum 13. Oktober 2023.