Von AAA zur Dreifachbedrohung: Nachhaltigkeit, Bedienbarkeit und geopolitische Risiken der US-Staatsschulden
Wie es dazu kam
Die Nachhaltigkeit der US-Staatsschulden ruft wieder einmal Bedenken hervor, da sich der Schuldenstand durch zunehmende prognostizierte Defizite erhöht, während steigende Zinssätze die Bedienbarkeit in Frage stellen. Die US-Staatsschulden sind auf ein Rekordniveau geschossen. Sie belaufen sich zum Oktober 2023 nunmehr auf insgesamt über 33 Billionen USD. Natürlich stellt sich die Frage, wie der Schuldenberg überhaupt so hoch werden konnte. Die mathematische Antwort ist einfach: Die USA hatte in jedem der letzten 22 Jahre ein Haushaltsdefizit. Zu einem Haushaltsüberschuss hingegen kam es in den vergangenen 50 Jahren nur fünf Mal. Jahr für Jahr haben Defizite – verursacht durch mehr Staatsausgaben als -einnahmen – zu einem höheren Schuldenstand beigetragen. Nicht alle Haushaltsdefizite sind jedoch gleich geschaffen, und einige wirken sich langfristiger auf die Nachhaltigkeit der Schulden aus als andere. In den Jahren 2020 und 2021 zum Beispiel war das Staatsdefizit im Durchschnitt viermal höher als in den vorangegangenen 15 Jahren. Dies war auf mehrere Entlastungsgesetze im Zuge der COVID-19-Pandemie zurückzuführen. Diese beinhalteten Mittel für Konjunkturpakete, erlassbare Darlehen an Kleinunternehmen und höhere Arbeitslosenunterstützung. In Zukunft werden sich die Haushaltslücken wahrscheinlich eher verschlimmern, da das Congressional Budget Office über die kommenden 30 Jahre eine Zunahme der Defizite von 5,8% auf 10% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) prognostiziert.
Quelle: Federal Reserve Economic Data. Stand: 1. Dezember 2022.
Die anschwellenden Haushaltsdefizite der letzten Jahre haben die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, der Anleger und – am offensichtlichsten vielleicht im Jahr 2023 – der Mitglieder von Kongress und Weißem Haus erregt. Frühere erhöhte Schuldenstände haben bei ihnen die Frage aufgeworfen, ob man ein weiteres Anwachsen zulassen oder eine Obergrenze einführen sollte. Letzteres ist vielleicht keine wirklich machbare Lösung, doch die Aussicht darauf erlaubte es den Regierungsvertretern, sowohl die Höhe als auch die Prioritäten der Staatsausgaben zu debattieren. Dabei kam es zu einzelnen Pattsituationen in Bezug auf die Schuldenobergrenze, wie wir es zu Beginn dieses Jahres erlebt haben. Dieses Mal haben sich Republikaner und Demokraten geeinigt und den Fiscal Responsibility Act erlassen, der die Schuldenobergrenze bis 2025 aufhob. Die Pattsituation führte jedoch zu anderen Konsequenzen, nämlich einer Herabstufung des Länderratings der USA durch Fitch von AAA auf AA+. Die Herabstufung brachte Anlegern vielleicht keine neuen fiskalpolitischen Informationen, weshalb die Auswirkungen auf die Treasury-Märkte unserer Ansicht nach überschaubar waren. Jedoch gewährte sie beunruhigende Einblicke in die aktuelle und zukünftige Gesundheit der US-Finanzen. Wir teilen die Besorgnis für die drei Hauptgründe der Herabstufung:
- Eine hohe und zunehmende Staatsschuldenlast,
- die Erosion der Staatsführung im Vergleich zu anderen Staaten mit „AA“- und „AAA“-Rating und
- die erwartete Verschlechterung der Haushaltslage über die nächsten drei Jahre.
Hohe Staatsverschuldung, geringe Wahrscheinlichkeit der Aufrechterhaltung eines nachhaltigen Überschusses und politische Vetternwirtschaft zählen zu den zunehmenden Herausforderungen der nächsten Jahre. Nichtsdestotrotz richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die künftige Gesundheit des US-Haushalts und wie leicht Schulden bedient werden können.
Herausforderungen auf dem Weg zur Finanzierbarkeit der Schuldenlast
Warum ist die Finanzierbarkeit der Schuldenlast wichtig? Genau wie bei einem Unternehmen werden, je höher ein Land verschuldet ist, desto mehr Mittel für Zinszahlungen aufgewendet. Dadurch fehlen sie als Investment in produktive Wachstumsanlagen. Die Lösung des wachsenden Schuldenproblems ist daher aufgrund der nationalen Finanzierungsprioritäten – darunter Ausgaben für Infrastruktur, Gesundheitswesen, Bildung, Sozialversicherung und nationale Sicherheit – entscheidend für den Wohlstand der USA. Eine unproduktive Mittelallokation könnte nur der Anfang sein. Zwar ist dies nicht unser Basisszenario, doch was passiert, wenn das undenkbare Szenario eines Zahlungsausfalls der USA eintritt? US-Finanzministerin Janet Yellen hat es am besten ausgedrückt: „Die Nichteinhaltung der staatlichen Verpflichtungen würde irreparable Schäden für die amerikanische Wirtschaft, die Existenzgrundlage aller Amerikaner und die globale Finanzstabilität mit sich bringen.“1 Sollte Washington seine Schulden nicht zahlen, könnte dies die Fähigkeit der Regierung beeinträchtigen, Maßnahmen zu finanzieren, Zinssätze in die Höhe treiben, die Stimmung der Verbraucher und Anleger nachteilig beeinflussen und eine Rezession herbeiführen. Auch ohne einen Zahlungsausfall können übermäßig hohe Schuldenstände selbst zu einer Erosion der Wirtschaftskraft führen und zahlreiche Risiken für die geopolitische Stellung der USA bergen. Zwar gewährt die Unterstützung durch das „volle Vertrauen in die Kreditwürdigkeit“ der US-Regierung die Fähigkeit, zusätzliche Schulden zur Erfüllung der Finanzierungsprioritäten aufzunehmen, aber gibt es eine unausgesprochene Schuldenobergrenze, über der die Integrität des „vollen Vertrauens in die Kreditwürdigkeit“ gefährdet ist?
Goldman Sachs Global Investment Research (GIR) geht davon aus, dass anhaltende Haushaltsdefizite das staatliche Verhältnis von Schulden zu BIP im Laufe des nächsten Jahrzehnts auf fast 120% steigen lassen. Damit würden sie den kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erreichten Höchststand von 106% übertreffen. Ironischerweise wird die Bedienung bereits bestehender Schulden den größten Einfluss auf die zukünftige Emission von Schuldtiteln haben, da der Zinsaufwand in einer Periode strukturell höherer Zinssätze schwerer zu schultern sein wird. GIR geht außerdem davon aus, dass der Zinssatz bis zum Finanzjahr 2028 3,8% des BIP erreichen wird, weit über dem Durchschnitt der Nachkriegszeit von 1,8%. Neben den steigenden Kosten für Medicare und der Sozialversicherung, die eine alternde US-Bevölkerung mit sich bringt, bildet dies die Grundlage für größere zukünftige Haushaltsdefizite und wiederum höhere Schuldenstände. Man kann jedoch nicht die Mittelabflüsse betrachten, ohne die Zuflüsse zu berücksichtigen. Diese Seite der Bilanz sieht aber leider nicht viel besser aus. Das Verhältnis von Zinsaufwand zu Einnahmen wird in den USA bis 2025 voraussichtlich 10% erreichen, verglichen mit dem Median der mit „AA“ bewerteten Länder von nur 2,8% und dem Median der mit „AAA“ bewerteten Länder von 1%.
Quelle: Fitch Ratings. Stand: 31. Juli 2023. Die im vorliegenden Dokument enthaltenen Konjunktur- und Marktprognosen dienen zu Informationszwecken und gelten zum Datum des vorliegenden Dokuments. Es gibt keine Gewähr dafür, dass die Prognosen auch tatsächlich eintreffen. Bitte beachten Sie die zusätzlichen Hinweise am Ende dieses Dokuments.
Wie kann dieser Kurs angesichts hoher Schuldenstände und fragwürdiger Bedienbarkeit nachhaltig sein? Wenngleich es keine einheitliche Definition für finanzielle Nachhaltigkeit gibt, geht es im Allgemeinen darum, ob die aktuelle oder zukünftige Politik ausreichen wird, um Umstände zu vermeiden, unter denen die Schulden ins Grenzenlose steigen oder nicht mehr auf ein vorheriges Niveau zurückkehren. Wie zuvor besprochen scheint die Fokussierung des Verhältnisses von Schulden zum BIP nicht auf diese Definition zu passen. Zwei wesentliche Einflussgrößen auf einen Weg hin zur Nachhaltigkeit sind: 1) BIP-Wachstum im Verhältnis zum Zinsniveau und 2) finanzpolitische Verantwortung. Was das Erste anbelangt, so haben die USA in der Vergangenheit stets von Kreditkosten profitiert, die im Durchschnitt unter der nominalen Wachstumsrate lagen. Dieser Trend wird voraussichtlich anhalten. Diese niedrigen Kreditkosten werden von der Tatsache gestützt, dass die US Treasury-Märkte weltweit die liquidesten sind. Sie haben Anlegern in Zeiten von Stress und Unsicherheit als sicherer Hafen gedient. Nach Auffassung von GIR wird das Finanzministerium weiterhin von einem Zielkonflikt zwischen BIP-Wachstum und Zinssätzen profitieren. Dabei wird sich die Rendite 10-jähriger US-Staatsanleihen langfristig bei rund 0,5 Prozentpunkten unter dem Nominalwachstum einpendeln.
Quelle: Bloomberg. Stand: 30. Juni 2023.
In puncto finanzpolitische Verantwortung können Kongress oder Weißes Haus wenig gegen die Kreditkosten oder den Schuldenstand des Finanzministeriums tun. Sie können allerdings das Primärdefizit beeinflussen. Beide Seiten sind sich darüber einig, dass der Weg hin zu nachhaltiger Verschuldung nicht in der Kürzung von Leistungsansprüchen besteht – trotz eines voraussichtlichen Anstiegs der Sozialversicherungs- und Gesundheitsausgaben auf 6,0% bzw. 4,1% des BIP im Jahr 2033.2 Somit könnte die fiskalpolitische Disziplin in den Bereichen Verteidigungsausgaben, auslaufende Steuerrückstellungen, grüne Subventionen und Gesundheitsausgaben entscheidende Komponenten für eine Verringerung der Defizite und somit für einen Weg zu einer Zukunft mit nachhaltigerer Verschuldung sein. Bis dahin wird die Steuerposition der USA unserer Ansicht nach weiterhin von der hohen Nachfrage nach US-Schuldtiteln und auf US-Dollar lautende Vermögenswerte seitens ausländischer wie auch einheimischer Anleger gestützt.
Die Politik könnte die Glaubwürdigkeit US-amerikanischer Vermögenswerte untergraben
Die institutionelle Fähigkeit der US-Regierung zur Rückzahlung ihrer Schulden bleibt intakt, das Ausfallrisiko ist also gering. Der mangelnde politische Wille zur zügigen Lösung des Schuldenproblems verstärkt die verbleibenden Tail-Risiken. Im Laufe der Geschichte haben opponierende Parteien die Schuldenverhandlungen genutzt, um die Regierungsausgaben zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Eine zunehmende politische Polarisierung in Washington lähmt die Fähigkeit des Kongresses, seine erklärten Haushaltsprioritäten durchzusetzen. Des Weiteren verringert die wiederholt waghalsige Politik die Glaubwürdigkeit von Anlagechancen in den USA. Wenn nichts unternommen wird, könnte dies die Kreditwürdigkeit der USA beeinträchtigen. Damit könnten Anleger dazu verleitet werden, Kapital in andere Regionen zu lenken.
Stärkere Anfälligkeit gegenüber geopolitischen Schocks
Im Hinblick auf die geopolitischen Spannungen sind die Verschuldung und wirtschaftliche Schwäche der USA besorgniserregend, da ein großer Teil der amerikanischen Schuldtitel von ausländischen Anlegern finanziert wird. Sollte die Skepsis bezüglich der Fähigkeit der Regierung, ihre Schulden zurückzuzahlen, zunehmen, könnte die Lust auf Anlagen an den US-Kapitalmärkten vergehen. Je höher die Verschuldung der USA, desto mehr Kreditrisiko wird in ihre Anlagewerte eingepreist, wenn auch von niedrigen Ausgangspunkten. Gleichzeitig könnte die Fähigkeit der USA, zusätzliches Kapital aufzunehmen, angesichts eskalierender geopolitischer Spannungen abnehmen. Dies könnte die Kapazität zur Bedienung finanzieller Verpflichtungen und Unterstützung strategischer Allianzen gefährden. Eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation könnte daher eine verstärkte Bedrohung der nationalen Sicherheit darstellen und die Anfälligkeit der USA gegenüber geopolitischen Schocks erhöhen.
Sorgen um die Entdollarisierung
Die einzigartige Rolle des US-Dollar als globale Leitwährung verleiht außergewöhnliche fiskalische Flexibilität. Tiefe Kapitalmärkte in den USA festigen den Ruf und die Langlebigkeit des US-Dollar. Sie ermöglichen es ausländischen Zentralbanken, ihre Reserven zuverlässig und in großem Umfang in US-Staatsanleihen zu investieren. All dies steigert die Attraktivität des US-Dollar als Fluchtwährung. Dieses erhebliche Maß an eingebauter Nachfrage nach US-Staatsanleihen erlaubt es den USA, Kredite zu niedrigeren Kosten zu beschaffen und den Dollar als diplomatisches Mittel einzusetzen. Zu diesem Zeitpunkt ist es unwahrscheinlich, dass der US-Dollar seinen Status als Leitwährung einbüßen wird, da es weder eine einzelne Währung noch einen Währungskorb gibt, der derzeit als tragfähige Alternative in Betracht käme. Unserer Ansicht nach besteht weiterhin nur ein geringes Risiko, dass die Entdollarisierung in absehbarer Zukunft die globale Währungsordnung verändert. Wir erkennen allerdings an, dass es einen jahrzehntelangen Trend zur Entdollarisierung geben könnte. Bis dahin gehen wir davon aus, dass die Entdollarisierung eine populäre Schlagzeile bleiben wird, aber ihre Verwirklichung unwahrscheinlich ist.
Kredite, wo sie fällig sind
Die US-Staatsverschuldung hat historische Ausmaße erreicht. Trotz triftiger Gründe und Risikobewertungen angesichts dieser zunehmenden Bedenken sind wir der Ansicht, dass das aktuelle Nachhaltigkeitsniveau der US-Staatsverschuldung keine unmittelbare – und auch keine garantierte – langfristige Bedrohung darstellt. Die Stärke der USA als globale Wirtschaftsmacht verstärkt ihre Glaubwürdigkeit und ihr letztendliches Versprechen, Schulden zurückzuzahlen. Dadurch wird die Finanzierungsflexibilität zur Erfüllung ihrer Prioritäten und Aufnahme zusätzlicher Schulden erhöht. US-amerikanische Vermögenswerte haben sich daher trotz der Schuldenproblematik als attraktiv und investierbar durchgesetzt. Auch wenn der Weg zur Nachhaltigkeit kein einfacher sein wird, so liefert der reichliche Zugang zu Kapital der US-Regierung einen Puffer auf der Suche nach fiskalischer Disziplin. Dadurch kann sie eine Fülle verpflichtender Ausgaben mit ihren Bemühungen vereinen, ein Ausufern des Staatsschuldenniveaus zu verhindern.
1Janet Yellen, Schreiben an den Kongress zur Schuldenobergrenze. US-Finanzministerium. 13. Januar 2023.
210-Jahres-Haushaltsprognose des US Congressional Budget Office. Stand: Mai 2023.