Langfristige Stärke: In Indiens wirtschaftlichen Aufstieg investieren

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Hiren Dasani
Co-Head, Emerging Markets Equity
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Prakriti Sofat
Emerging Market Debt (EMD) Economist and Co-Head of EMD Environmental, Social and Governance
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Stephanie M. Hui
Head of Private Equity in Asia and Global Co-Head of Growth and Private Equity
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Marco Willner
Co-Head of Dynamic Asset Allocation, Multi-Asset Solutions
Perspektiven
Dieser Artikel ist Teil unserer Perspektiven Serie
Wichtige Erkenntnisse
1
Wachstumsimpulse
Das Wachstum in Indien übersteigt weiterhin das Wachstum in anderen großen Volkswirtschaften. Sein starkes Wachstum basiert auf Reformbemühungen in allen Sektoren, günstigen demografischen Zahlen und der globalen Verschiebungen von Lieferketten.
2
Attraktive Investments
Wachsende Digitalisierung und zunehmend ausgereifte Kapitalmärkte, unterstützt durch technische Rückenwinde wie die Aufnahme in globale Anleiheindizes, stärken seine Attraktivität als Investitionsziel.
3
Chancen inmitten von Komplexität
Anleger sollten selektiv vorgehen und die Expertise von Fachleuten vor Ort in Anspruch nehmen, um sich in der Komplexität Indiens zurechtzufinden, verursacht beispielsweise durch anstehende Parlamentswahlen und rasante wirtschaftliche wie gesellschaftliche Veränderungen.

Indiens Wirtschaft bleibt robust. Reformen verbessern weiterhin das wirtschaftliche Umfeld. Das Land profitiert von einer jungen, wachsenden Bevölkerung und einer geopolitischen „Kulisse“, die den Aufstieg als Produktionsstandort begünstigt. Reifende Kapitalmärkte sind ebenfalls ein gutes Zeichen für zukünftige Investmentchancen. Viele Aspekte der indischen Wachstumsstory sind bekannt. Dennoch weist die Entwicklung in diesem riesigen Land, das umfangreiche demografische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen durchläuft, ihre ganz eigene Komplexität auf. Dazu gehören die Armut in den ländlichen Gebieten, Infrastrukturlücken und der Ehrgeiz des Landes, sein Wachstum aufrechtzuerhalten und gleichzeitig zu dekarbonisieren. Wir gehen davon aus, dass Indien weiterhin ein attraktives Ziel für Investitionen bleiben und langfristiges Wachstum erleben wird. Anleger sollten, um dieses Wachstum für sich zu nutzen, einen selektiven Ansatz erwägen und sich auf solide Unternehmen konzentrieren, die von den langfristig günstigen Bedingungen profitieren. 

Indiens Wirtschaft könnte in den kommenden Jahrzehnten mit den USA gleichziehen Indiens Wirtschaft könnte in den kommenden Jahrzehnten mit den USA gleichziehen

Quelle: Goldman Sachs Global Investment Research. Stand: 12. Februar 2024.

Stabile Wirtschaft, instabile Welt

Indiens Wirtschaft gehörte in den letzten zwanzig Jahren zu den am schnellsten wachsenden der Welt. Die Beibehaltung der wirtschaftlichen Stabilität durch Staatsausgaben (weniger Subventionen, mehr Investitionen) war in den letzten Jahren eine Priorität für Indiens Gesetzgeber. Diese Strategie scheint Früchte zu tragen. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) erwies sich in den Jahren 2022 (+6,7%) und 2023 (+6,4%) als widerstandsfähig. Das Wachstum dürfte 2024 robust bleiben und Prognosen legen nahe, dass Indiens BIP im kommenden Jahrzehnt weiterhin mit durchschnittlich 6,7% pro Jahr wachsen kann.1

Eine leicht erhöhte inländische Inflation könnte bedeuten, dass die indische Notenbank (Reserve Bank of India, RBI) 2024 einen strikteren Kurs verfolgen wird, bis die Inflation das Notenbankziel von 4,0% erreicht. Die RBI führte 2016 einen Rahmen für das Inflationsziel ein und glich damit Indiens Geldpolitik an internationale Standards an. Ein Schwerpunkt lag dabei auf der Senkung der Inflation für Lebensmittel, die 48% des indischen VPI-Warenkorbs ausmacht und historisch gesehen einen volatilen Swing-Faktor für die Gesamtinflation darstellt. Die Einführung eines Inflationsziels und die politischen Anstrengungen zur Stabilisierung der Lebensmittelpreise haben dazu beigetragen, die Inflationserwartungen in Zaum zu halten.

Indiens hauptsächlich binnenorientiertes Wachstum stellt einen Puffer gegen externe Schocks dar. Allerdings ist angesichts externer Faktoren wie der Stärke des US-Dollars und geopolitischer Unsicherheiten auch Vorsicht geboten. Steigende Ölpreise könnten die Indische Rupie (INR) belasten, da Indien ein Netto-Ölimporteur ist – wobei rund 600 Milliarden USD an Devisenreserven es der RBI ermöglichen sollten, den Kurs des INR stabil zu halten. Ein Grund zur Sorge sind Chinas makroökonomische Herausforderungen. Bei einem Vergleich der Volkswirtschaften im asiatisch–pazifischen Raum zeigt sich jedoch, dass Indien am wenigsten von der Endnachfrage in China (durch Verbrauch und Investitionen) abhängig ist.2

Indien ist weniger abhängig von der Nachfrage in China Indien ist weniger abhängig von der Endnachfrage in China

Quelle: World Input Output Database, OECD, Goldman Sachs Global Investment Research. Basierend auf der World Input-Output Database (2022) für Daten aus dem Jahr 2019. Stand: 14. November 2023. 

Impulse an den Kapitalmärkten

Der MSCI India stieg 2023 um 21% und überflügelte damit generell die Gruppe der Schwellenländer.3 Einige Anleger sehen die hohen Bewertungen an den Börsen kritisch. Die indischen Märkte neigten jedoch historisch gesehen schon immer zu höheren Bewertungen als die Aktienmärkte anderer Schwellenländer. Die Aktienmärkte des Landes haben mit die geringste Korrelation zu globalen Indizes und weisen eine vielfältigen Mischung großer Blue Chips und Small Caps auf. Eine wachsende Zahl inländischer Privatanleger trägt zusättzlich zu einer größerer Markttiefe bei. Wir sind generell der Ansicht, dass die Fundamentaldaten von Unternehmen in den nächsten Jahren auf starker makroökonomischer Stabilität und attraktiven Gewinnerwartungen basieren. Dabei sind die Unternehmensergebnisse ein wichtiger Faktor, den man im Blick behalten muss, da in Indien die Gewinne seit jeher die primäre Triebfeder für die Aktienrenditen sind.

Auf den Anleihemärkten ist die bevorstehende Aufnahme von Indien in den JPM GBI-EM Global Diversified Index – ein wichtiger Index für Anleihen in lokalen Währungen, den viele Anleger in Schwellenländer verfolgen – ein Beispiel für die zunehmende internationale wirtschaftliche Relevanz des Landes. Asien wird rund 48% des Index ausmachen, wenn Indiens Aufnahmezeitraum im März 2025 endet. China und Indien werden voraussichtlich die maximale Obergrenze von 10% erreichen. Schätzungen zufolge könnte die Aufnahme in den Index im Jahr darauf Zuflüsse von mehr als 40 Milliarden USD in den indischen Anleihemarkt auslösen.4

Angesichts der relativ hohen Zinsen und niedrigen Volatilität indischer Staatsanleihen sowie der niedrigen Korrelation mit anderen Asset- und Anleihemärkten könnten Anleger zur Aufnahme übergewichteter Positionen tendieren. Eine tiefe lokale Anlegerbasis – große indische Versicherungsgesellschaften und Handelsbanken sind Eigentümer eines Großteils der Staatsanleihen – begrenzt in gewissem Maße die Anfälligkeit des lokalen Anleihemarktes gegenüber plötzlichen Abflüssen ausgelöst durch globale Anleger.

Globale Anleiheanleger können über andere Wege ein Engagement in Indiens Wachstum erreichen, darunter auch in Anleihen, die von supranationalen Emittenten in INR begeben werden, wie etwa von Entwicklungsbanken, die Projekte im Land finanzieren. Wir sehen zudem Chancen auf dem indischen Markt für Unternehmensanleihen. Dieser bietet eine attraktive Mischung aus Rendite, Kreditqualität und langfristigen Wachstumsthemen bei Unternehmen, darunter digitale Dienstleistungen und erneuerbare Energien.

Indiens Private Markets demonstrieren Widerstandsfähigkeit. Investitionen in Private Equity sind im ersten Halbjahr 2023 um 10% auf 16,5 Milliarden USD gestiegen.5 In den letzten Jahren haben Buyout-Aktivitäten bei hochwertigen Vermögenswerten, insbesondere im Gesundheitssektor, zugenommen. Der globale Marktanteil Indiens an Börsengängen (IPOs) in allen Sektoren erreichte 2023 ein Allzeithoch und übertraf Hongkong, und das inmitten einer weltweiten Abschwächung, angeführt durch den Einbruch in US-Börsennotierungen.6 Dies ermöglichte starke Exit-Möglichkeiten für die wachsende Private-Equity-Anlegerbasis des Landes, die sich seit Anfang der 2010er Jahre von 200 auf 800 vervierfacht hat.

Private-Credit-Aktivitäten nehmen ebenfalls zu. In den vergangenen fünf Jahren wurden über 50 globale und inländische alternative Private-Credit-Investmentfonds (AIFs) in Indien registriert. In diesem Zeitraum sind in Indien Private-Credit-Anlagen von 5 des Wertes aller Alternatives im Jahr 2018 auf 16% in der ersten Jahreshälfte 2023 angestiegen, vor allem aufgrund von Infrastruktur-Deals.7 Gläubigerfreundliche Insolvenz- und Konkursgesetze haben das Vertrauen in den Markt und die Nachfrage nach neuen Möglichkeiten der Fremdkapitalaufnahme erhöht.

Indien im Vorteil Indien im Vorteil

Quelle: Goldman Sachs Global Investment Research. Basierend auf 216 Studienteilnehmern auf der Goldman Sachs Global Strategy Conference, London. Stand: 16. Januar 2024. 

Fünf weitere Jahre mit Modi?

Indien, die weltgrößte Demokratie, ist eines von über 70 Ländern, die 2024 regionale, nationale oder Parlamentswahlen abhalten. Die zwei größten politischen Parteien in Indien sind die Bharatiya Janata Party (BJP) und der Indian National Congress (INC). Die von der BJP angeführte National Democratic Alliance (NDA) stellt die aktuelle Zentralregierung und hofft in diesem Jahr auf eine Wiederwahl. Die starken Ergebnisse der BJP in den kürzlichen Regionalwahlen und die nationalen Meinungsumfragen deuten darauf hin, dass Premierminister Modi für eine dritte fünfjährige Amtszeit bestätigt wird.8 Eine höhere Wahrscheinlichkeit für Regierungskontinuität sowie Stabilität in der Wirtschaftspolitik dürften positive Auswirkungen auf indische Anlagen haben, darunter auch auf Aktien.

Unter Modi, dessen Amtszeit 2014 begann, haben Reformen des Banksektors, der Produktion und ein strengeres Inflationsmanagement die Wirtschaft gestärkt. Hinzu kem ein Fokus auf den Ausbau von physischer und digitaler Infrastruktur. Bemühungen zur Ausweitung des Zugangs zu Bankkonten und Finanzdienstleistungen, insbesondere in ländlichen Gebieten, haben positive Ergebnisse gezeigt. Z.B. bei der Formalisierung der Wirtschaft, einer besseren finanziellen Bildung bei breiteren Bevölkerungsgruppen, sowie der Verbesserungen bei Regierungsausgaben und Steuererhebung. Wir erwarten – unabhängig von der politischen Situation – einen fortgesetzten Fokus auf Reformmaßnahmen.

Geopolitik, Lieferketten und „Make in India“

Indien ist nicht immun gegen geopolitische Umbrüche, große Konflikte und ihre Auswirkungen. Allerdings ist das Land ein potenzieller langfristiger Nutznießer einer zersplitterten Weltwirtschaft. Die Entwicklung global wettbewerbsfähiger Produktionszentren ist vielleicht die größte Chance für Indien, um im nächsten Jahrzehnt ein höheres Wirtschaftswachstum zu erreichen. Immer mehr Unternehmen entscheiden sich dafür, Waren außerhalb Chinas und Russlands herstellen zu lassen. Sofern Indien es schafft, hiervon zu profitieren, könnten neue Produktionsökosysteme mit mehr Arbeitskräften und Ausbildung von Arbeitern sowie Chancen für öffentliches und privates Kapital entstehen, Infrastrukturinvestitionen zu unterstützen.

Die Initiative „Make in India“ (MII), die vor einem Jahrzehnt erstmals vorgestellt wurde, hat das Ziel, die Abhängigkeit Indiens von importierten Waren zu senken und die Exporte hochqualitativer Waren anzukurbeln. Indiens Regierung hat die Unternehmenssteuern für neue Fertigungsanlagen gesenkt und produktionsgebundene Anreizprogramme (Production Linked Incentive, PLI) in verschiedenen Sektoren eingeführt. Aufgrund der schnell wachsenden inländischen Nachfrage wurden seit der Einführung von MII Fortschritte in Bereichen wie Elektronik gemacht. Die Entwicklung investitionsintensiver Industrien – wie etwa Elektrofahrzeuge und Halbleiter – wird aufgrund des Mangels an inländischen Rohstoffen möglicherweise von globalen Unternehmen abhängig sein.

Mobiltelefon-Lieferketten wandern von China nach Vietnam und IndienMobiltelefon-Lieferketten wandern von China nach Vietnam und Indien

Quelle: Haver Analytics, Goldman Sachs Global Investment Research. Stand: 10. September 2023. 

Infrastrukturlücken, bürokratische Hemmnisse in der Logistik und ein hohes Risiko für Stromausfälle sind einige der Hindernisse beim Ausbau von Produktionskapazitäten in Indien. Verschiedene Sprachen und Präferenzen bezüglich des Arbeitslebens, sowie weit verteilte Produktionsstandorte spielen ebenfalls eine Rolle. Indische Arbeiter arbeiten tendenziell nahe an ihrem Heimatort, während chinesische Arbeiter beispielsweise daran gewöhnt sind, weit von ihren Heimatstädten entfernt zu leben. Die Verteilung von Fabriken über ganz Indien könnte im Gegensatz zu Chinas Megastandorten die Produktionseffizienz begrenzen.

Zunehmende Digitalisierung

Indien hat im vergangenen Jahrzehnt Innovationen willkommen geheißen. Das Land besitzt inzwischen über 750 Millionen Internetnutzer und rund eine halbe Milliarde Smartphone-Nutzer.9 Die mobile Datennutzung in Indien ist innerhalb von fünf Jahren um das 20-fache gewachsen und liegt heute weltweit mit an der Spitze. Diese Entwicklung wurde durch starke Kostensenkungen bei Mobilfunkdaten zusätzlich angekurbelt. In den letzten Jahren kam es zu rasantem Wachstum bei Technologien für Internetzugang, Fintech, E-Commerce, Bildung und Gesundheit. Wir gehen davon aus, dass dieser Trend sich fortsetzen wird.

Ein prägendes Merkmal Indiens Digitalisierungsprozesses ist, dass die Regierung die Führung beim Ausbau digitaler Infrastruktur übernommen hat. Dies zeigt sich im gesunden Ökosystem indischer Tech-Startups in Bereichen wie E-Commerce und Online-Zahlungen, von denen einige an der Börse notiert sind. Indien könnte auch gut dafür positioniert sein, von künstlicher Intelligenz (KI) zu profitieren. Neue KI-Tools und -Techniken könnten für die Verbesserung von Gesundheit und Bildung genutzt werden. In der Vergangenheit konnten indische IT-Dienstleister immer von technologischen Umbrüchen profitieren, da sie die Produkte und Dienstleistungen für den Technologiewandel entwickelt haben. Unternehmen, die sich erfolgreich anpassen, könnten eine zentrale Rolle bei der Kostensenkung und Umsatzsteigerung für Kunden im KI-Bereich spielen.

Demografische Unterschiede

Indiens Bevölkerung hat 2023 China überholt. So wurde Indien das bevölkerungsreichste Land der Erde. Mit einem Durchschnittsalter von 28 Jahren verfügt es außerdem über eine der jüngsten Bevölkerungen weltweit – verglichen mit 39 Jahren in China und den USA.10 Millennials und GenZ werden 2030 mehr als 50% der Bevölkerung Indiens ausmachen.11 Dieser auf einer großen Erwerbsbevölkerung beruhende Vorteil kann Indien dabei helfen, seine kurzfristigen inländischen Wachstumsziele zu erreichen und von Diversifikationschancen in der globalen Lieferkette zu profitieren. Indiens „demografische Dividende“ dürfte nicht nur Chancen in den Dienstleistungs- und Fertigungssektoren schaffen, sondern auch die Kaufkraft der jungen Bevölkerung des Landes stärken. Wir gehen davon aus, dass der von den Millennials getragene Konsum – insbesondere in den Bereichen E-Commerce, Lebensmittellieferungen und Fintech – eine treibende Kraft für Indiens Wachstum sein wird.

Indiens Mittelklasse – die größte der Welt – wird 2030 voraussichtlich 80 % der Bevölkerung des Landes ausmachen und für 75% der Verbraucherausgaben verantwortlich sein. Dies dürfte die breite Nachfrage nach Premium-Waren und langlebigen Konsumgütern in die Höhe treiben. Die Autoindustrie dürfte ebenfalls stetig wachsen, einschließlich der Elektrofahrzeuge, da die Regierung die Nutzung sauberer Kraftstoffe durch Steuervorteile und Subventionen unterstützt. Die Migration von Fachkräften in urbane Gebiete wird im nächsten Jahrzehnt geschätzt zu einer Verdreifachung des Wohnraumbedarfs in den Städten führen und so das Wachstum der Zementindustrie befeuern.12 Rund ein Drittel aller Einwohner Indiens leben in Städten. Damit ist die Urbanisierungsrate deutlich niedriger als in China mit 63%, Indonesien mit 58% und Südafrika mit 68%.13

Indien ist jetzt das bevölkerungsreichste Land der WeltIndien ist jetzt das bevölkerungsreichste Land der Welt

Quelle: HYDE (2017), Gapminder (2022), Vereinte Nationen (2022), Our World in Data, Goldman Sachs Global Investment Research. Strategy Espresso: European companies exposed to India: The Nifty Economy. (Europäische Unternehmen und Indien: Die raffinierte Wirtschaft.) Stand: 6. Juli 2023. 

Bei allen demografischen Vorteilen muss Indien jedoch auch erhebliche soziale Herausforderungen bewältigen. Bereinigt um die Unterschiede in der Kaufkraft liegt der Mindestlohn in Indien deutlich unter dem der meisten anderen asiatischen Länder. Die relativ niedrigen Löhne in Indien mögen zwar die Wirtschaftlichkeit der Lieferkettenexpansion globaler Unternehmen nach Indien unterstützen, aber niedrige Einkommen bleiben eine ernste Herausforderung beim Erreichen von zumutbaren Arbeitsbedingungen und integrativem Wachstum in Indien. Ein Großteil der indischen Arbeitskräfte ist zudem im „informellen“ Sektor tätig, in dem Arbeiter keine schriftlichen Arbeitsverträge, bezahlten Urlaubstage oder Krankenversicherungs- und Sozialversicherungsleistungen erhalten.

Eine große Herausforderung (und Chance) besteht darin, dass nur eine von fünf indischen Frauen in einem formellen Beschäftigungsverhältnis steht – eine der niedrigsten Raten weltweit, die zudem noch weiter zurückgegangen ist. Dies stellt ein Hindernis für starkes Wachstum dar.14 Der Status der Frauen in Indien verbessert sich schrittweise, aber nur langsam. Ungleichheiten, wie geschlechtsspezifische Lohnunterschiede, ein niedriges Heiratsalter und vorherrschende soziale Normen begrenzen die Arbeitsmöglichkeiten für Frauen. Durch Indiens makroökonomische Stärke und günstige Demografie können sich Möglichkeiten ergeben, Frauen in der Arbeitswelt zusätzlich zu fördern und mehr Frauen als Unternehmerinnen zu unterstützen.

Dekarbonisierung

Indien möchte gleichzeitig wachsen und seine Wirtschaft dekarbonisieren. Neben China, den USA und anderen großen Volkswirtschaften kommt dem Land eine zentrale Rolle bei der Senkung klimaschädlicher Emissionen zu, um die globale Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Obwohl es das bevölkerungsreichste Land der Welt ist, sind die Pro-Kopf-Emissionen in Indien im Vergleich zu anderen großen Volkswirtschaften relativ niedrig.15 Indiens wachsende Energienachfrage ist jedoch weiterhin stark von Kohle, Öl und Gas abhängig. Das Dekarbonisierungsziel Indiens – sowohl das kurzfristige (2030) als auch das längerfristige (Netto-Null bis 2070) – ist im Vergleich zu anderen Ländern niedrig.

Im ersten Halbjahr 2023 hat das Land beinahe täglich extreme Wetterereignisse erlebt, darunter Hitzewellen, Stürme und Starkregen.16 Die landwirtschaftliche Produktion und die Lebensmittelsicherheit werden durch Schwankungen im Beginn der Regen- und Trockenzeiten sowie Temperaturveränderungen beeinträchtigt. Den Behörden zufolge sind die Klimarisiken nicht mehr zu übersehen und es wurde zugegeben, dass nachhaltige Finanzen bei ihrer Minderung eine Rolle spielen könnten. Die RBI gründete 2021 eine „Sustainable Finance Group“ (SFG). Indien emittierte Anfang 2023 seine erste grüne Staatsanleihe.17

Aufgrund der niedrigeren Lohnkosten und reichhaltig verfügbarer Sonnenenergie ist Indien einer der Orte mit der höchsten Kostenwettbewerbsfähigkeit was den Aufbau erneuerbarer Energien im großen Maßstab betrifft. Die Solarisierung der Landwirtschaft ist ein Beispiel für einen wirtschaftlich tragfähigen Anwendungsfall des Übergangs zu erneuerbaren Energien in Indien. Wir gehen davon aus, dass indische Konglomerate 2024 große Solarprojekte finanzieren werden. Während der Anteil erneuerbarer Energien zunimmt, wird die Entwicklung von Speicheranlagen ein wesentlicher Faktor für eine verlässliche Stromversorgung und die Stabilität des Stromnetzes sein. Die Regierung konzentriert sich zudem darauf, Indien zu einem globalen Zentrum für die Produktion und den Export von grünem Wasserstoff zu machen.  

Wachstum durch langfristige Stärke

Indien hebt sich durch seine makroökonomische Stabilität klar ab. Das langfristige Wachstumspotenzial des Landes wird durch sektorübergreifende Reformen, Bemühungen zur Einwerbung ausländischen Kapitals, reifende Kapitalmärkte, eine günstige demografische Situation, eine Neuausrichtung von Lieferketten und zunehmende Digitalisierung unterstützt. Auch die neutrale geopolitische Position Indiens im Zusammenhang mit Handel und Engagement ist einzigartig. Das Land nimmt neuerdings eine einflussreiche und komplexe geopolitische Rolle ein. Anleger sollten in diesem Wahljahr insb. geopolitische Veränderungen, Verschiebungen bei den Lieferketten und die Innenpolitik Indiens im Auge behalten.

Insgesamt gehen wir von spannenden langfristigen Investmentchancen in Indien aus. Klare Gewinnerwartungen sowie die potenzielle Kontinuität in der Regierung und damit in der Politik bleiben wichtige begünstigende Faktoren für Aktien. Bei Anleihen können sich Chancen aus der Aufnahme in den lokalen Schwellenländer-Anleiheindex und bei Emittenten auf dem indischen Markt für Unternehmensanleihen, die langfristige Wachstumsthemen verfolgen, ergeben. Die sich weiterentwickelnden Private Markets des Landes bieten weitere Möglichkeiten für einen Kapitaleinsatz. Wir raten zu einem aktiven Ansatz, um Chancen optimal zu identifizieren und von der langfristigen Stärke Indiens zu profitieren.

 

1Goldman Sachs Global Investment Research (GIR). Stand: 3. Juli 2023.

2Goldman Sachs GIR. Stand: 14. November 2023.

3MSCI, Goldman Sachs Asset Management. Stand: 31. Dezember 2023.

4Goldman Sachs GIR. Stand: 22. September 2023.

5Bain & Company. Stand: 30. August 2023.

6Reuters. Stand: 19. Dezember 2023.

7Praxis Global Alliance, Indian Venture and Alternate Capital Association (IVCA). Stand: Dezember 2023.

8Quelle: Bloomberg, Election Commission of India, Goldman Sachs Global Investment Research. Stand: 4. Dezember 2023.

9Internet and Mobile Association of India. Stand: 3. Mai 2023.

10Worlddata, census.gov. Stand: Februar 2024.

11EY India. Stand: April 2023.

12CLSA. Stand: November 2023.

13World Bank, Haver Analytics. Stand: 22. Februar 2024.

14Goldman Sachs GIR. Women (Still) Hold Up Half the Sky (Frauen stützen (weiterhin) den halben Himmel). Stand: Juni 2023.

15Climate Change Performance Index (CCPI). Stand: 31. Dezember 2023.

16Centre for Science and Environment (CSE). Stand: 15. Juli 2023.

17Weltbank. Stand: 12. Juni 2023.

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