Die Finanzierbarkeit der US-Staatsverschuldung: Eine ungewisse fiskalische Zukunft
Bis zur US-Wahl im November wird die Bruttostaatsverschuldung der USA voraussichtlich über die Marke von 35 Billionen Dollar geklettert sein. Diese Rekordsumme ist größer als die US-Wirtschaft und mehr als doppelt so hoch wie 2014. Es gibt keine erkennbaren Hinweise darauf, dass sich dieser beunruhigende Kurs umkehren wird. Das Congressional Budget Office (CBO) prognostiziert einen Anstieg der Bruttostaatsschuld auf 54 Billionen USD bis 2034. Das entspricht 116 % des US-BIP. So hoch war das Land bisher noch nie verschuldet.1 Diese Schätzung ist konservativ, denn sie geht davon aus, dass keine der Steuerbestimmungen des Tax Cuts and Jobs Act verlängert werden. Das ist allerdings unwahrscheinlich. Wenn alle Steuerbestimmungen verlängert werden, prognostiziert das CBO einen Anstieg auf über 130 % des BIP bis 2034. Das Haushaltsdefizit (die Differenz zwischen den Einnahmen und den Ausgaben der Regierung) wird voraussichtlich ebenfalls steigen, von 1,9 Billionen USD in diesem Fiskaljahr (5,6 % des BIP) auf 2,6 Billionen USD (6,1 % des BIP) in zehn Jahren. Damit würde es über dem Durchschnitt der letzten 50 Jahre von 3,7 % des BIP liegen.2
Die Realität könnte sogar noch schlimmer werden. In seinem Basisszenario prognostiziert das CBO, dass 1. in den USA in den nächsten zehn Jahren keine Rezession eintritt, 2. die Inflation dauerhaft auf ein normales Niveau zurückgeht und 3. die Finanzierungskosten niedrig bleiben. So oder so wird die ohnehin schon beträchtliche fiskalische Belastung weiter zunehmen, und die länger höher bleibenden Zinsen erschweren die Bedienbarkeit der Schulden. Wir bleiben bei unserer Einschätzung, dass die US-Schuldendynamik auf kurze bis mittlere Sicht keine Bedrohung für die US-Wirtschaft darstellt. Dennoch ist es sinnvoll, sich die Lage genauer zu betrachten: die Negativeffekte, die zur steigenden US-Staatsverschuldung beitragen, die einzigartige Fähigkeit der US-Wirtschaft, solche Bedingungen zu verkraften, und die potenziellen langfristigen Investmentfolgen.
Wie viel Schulden sind zu viel?
Die steigende Staatsverschuldung der USA wirft die Frage auf, wann ein Kipppunkt erreicht sein könnte. Dass die Ratingagentur Fitch die Kreditwürdigkeit der USA 2023 von AAA auf AA+ herabgestuft hat, war vielleicht ein Frühwarnsignal. Laut CBO gibt es keine Obergrenze, ab der die Staatsschuldenquote so hoch ist, dass eine Krise wahrscheinlich wird oder unmittelbar bevorsteht. Es lässt sich auch nicht genau sagen, ab welchem Punkt die Zinskosten gemessen am BIP nicht mehr finanzierbar wären.3 Das Penn Wharton Budget Model geht davon aus, dass die von der Öffentlichkeit gehaltenen US-Staatsschulden auf 175–200 % des BIP steigen müssten, bevor ein Zahlungsausfall der USA droht. Der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzt diesen Anteil auf 160–183 %.4 Derzeit liegt die US-Staatsverschuldung noch deutlich unter diesen Schwellenwerten und wird voraussichtlich in den nächsten 25 Jahren den niedrigsten nicht überschreiten.
Die Entwicklung der Staatsschuldenquote reagiert äußerst sensibel auf die angenommene Differenz zwischen dem Zinssatz und dem BIP-Wachstum. Analysen von Goldman Sachs Global Investment Research legen Folgendes nahe: Wenn der Zinssatz höher ist als das BIP-Wachstum und gleichzeitig die Schuldenlast wächst, könnte die Staatsschuldenquote beim derzeitigen fiskalischen Kurs irgendwann ein Niveau erreichen, dessen Stabilisierung einen großen Haushaltsüberschuss erfordern würde.5 Dieses Niveau ist wahrscheinlich noch weit entfernt. Ein hoher und beständiger Überschuss ist aber selten. Außerdem ist es über zwei Jahrzehnte her, dass die USA überhaupt einen Überschuss, wenngleich einen bescheidenen, erzielten. Die Bedingungen für eine Haushaltskonsolidierung sind in den USA angesichts des robusten Wirtschaftswachstums und der weitgehend gesunden Bilanzen im Privatsektor derzeit gegeben. Es fehlt jedoch der politische Wille für einen Defizitabbau.
Quelle: Internationaler Währungsfonds, Penn Wharton Budget Model, Bank of England, Congressional Budget Office, Goldman Sachs Investment Strategy Group und Goldman Sachs Asset Management. Stand: 15. Mai 2024. Die Grafik zeigt das Niveau, an dem die von der Öffentlichkeit gehaltenen US-Schulden als Anteil des BIP eventuell nicht mehr finanzierbar sind. „BIP“ steht für Bruttoinlandsprodukt. „CBO“ steht für Congressional Budget Office, die Haushaltsbehörde des US-Kongresses.
Wie einzigartig sind die USA?
Nicht nur die USA stehen vor fiskalischen Herausforderungen. In der Eurozone liegt die Bruttoverschuldung aktuell bei etwa 89 % des BIP (in den USA betrug dieser Anteil Ende 2023 97 %). Das ist trotz der COVID-bedingten Ausgaben der letzten Jahre niedriger als vor einem Jahrzehnt. Laut Schätzungen des IWF wird das strukturelle Defizit der Eurozone bis Ende dieses Jahres auf 2,7 % sinken (verglichen mit 6,5 % in den USA).6 Auf Länderebene wird sich die Staatsverschuldung in den kommenden Quartalen und Jahren wahrscheinlich unterschiedlich entwickeln. In Deutschland und Spanien verbessern sich die Primärsalden möglicherweise schnell genug, um die Schuldenquoten zu senken. In Frankreich führt die politische Unsicherheit eventuell dazu, dass eine schwierige Haushaltslage entsteht. In Italien werden die Haushaltsziele aufgrund kurzfristiger Wachstumsprobleme unter Umständen weiter verfehlt.
Großbritanniens Staatsverschuldung liegt indes unter dem Median der G7-Länder. Trotz Bedenken über die langfristige Haushaltslage gibt es auch Grund für Optimismus. In der Vergangenheit ist es dem Land bereits erfolgreich gelungen, auf steigende Schulden mit einer Haushaltskonsolidierung zu reagieren.7 Der Minihaushalt 2022 und die anschließende LDI-Krise im britischen Pensionsfondssektor zeigten jedoch anschaulich, dass selbst tiefe und liquide Kapitalmärkte durch einen Stimmungsschock schnell ins Straucheln geraten können. Japan ist der Abweichler unter den G7-Ländern. Seit mehr als zwei Jahrzehnten liegt die Staatsverschuldung über 100 % des BIP.8 Die Bruttostaatsverschuldung beträgt derzeit etwa 255 %. Das ist Rekord unter den Industrieländern und auf die Ausgaben zur Bewältigung der Pandemie in den letzten Jahren zurückzuführen.9 Japans Refinanzierungskosten sind jedoch weniger belastend, weil das Zinsniveau niedriger ist als im Rest der G7. Das Land verfügt auch über einen großen Pool an inländischen Investoren und Unternehmen, die in japanische Staatsanleihen investieren.
Verglichen mit anderen G7-Staaten verfügt die US-Wirtschaft über besondere Stärken, die erhebliche fiskalische Flexibilität ermöglichen. Die einzigartige Rolle des Dollars als globale Reservewährung bedeutet, dass die USA von weltweiten Ersparnissen zehren können. Die tiefen Kapitalmärkte in den USA festigen den Ruf und die Langlebigkeit des US-Dollars. Ausländische Zentralbanken können ihre Reserven zuverlässig und in großem Umfang in US-Staatsanleihen investieren. All dies stärkt die Attraktivität des US-Dollars als sichere Währung und als globale Reservewährung zusätzlich. Die Frage lautet nicht, ob Anleger US-Staatsanleihen kaufen werden, sondern zu welchem Preis. Wir sehen keine Anzeichen eines Kaufstreiks. Der Dollar befindet sich nicht im Abwärtstrend. Wenn globale Anleger ihre Bestände an US-Staatsanleihen reduzieren, würde sich das in einer anhaltenden USD-Schwäche widerspiegeln. Bisher ist das jedoch nicht zu beobachten.
Quelle: Internationaler Währungsfonds, Goldman Sachs Investment Strategy Group und Goldman Sachs Asset Management. Stand: 15. Mai 2024. Die linke Grafik zeigt Daten mit Stand von 2024. Die rechte Grafik zeigt Daten mit Stand von 2022. „BIP“ steht für Bruttoinlandsprodukt. „G7“ steht für die Gruppe der Sieben.
Feels Like the First Time?
Die USA haben seit ihrer Gründung als souveräner Staat Schulden, phasenweise sogar sehr Hohe. Ein massiver Schuldenabbau gelang mit unterschiedlichen Mitteln, die von anhaltenden Haushaltsüberschüssen bis zu einer Kombination aus niedrigen Zinssätzen gemessen am BIP-Wachstum, hoher Inflation und Finanzrepression reichen.10 In den späten 1990er Jahren wurde die Schuldenreduktion hauptsächlich durch Primärüberschüsse erreicht. Verschiedene Faktoren wie hohe Inflation und Finanzrepression trugen zum Schuldenabbau nach dem Zweiten Weltkrieg bei. Von 1946 bis 1974 erzielten die USA fast jedes Jahr einen Primärüberschuss und senkten letztlich die Staatsschuldenquote um mehr als 80 %.
Das reale Wirtschaftswachstum der USA, sprich: die reale BIP-Wachstumsrate, lag in den 1950er und 1960er Jahren im Schnitt bei 4 %. Das war ausschlaggebend dafür, dass die Schulden nach dem Zweiten Weltkrieg zurückgeschraubt werden konnten. Heute sind die USA trotz einer robusten Wirtschaft unserer Ansicht nach nicht in der Lage, diese früheren Wachstumsraten in den kommenden Jahren zu erreichen. In den letzten zehn Jahren hat sich das Wachstum auf unter 2 % abgekühlt. Für die nächsten dreißig Jahre prognostiziert das CBO, dass das reale BIP-Wachstum der USA auf 1,7 % pro Jahr sinken wird.11 Von den Möglichkeiten, Ausgaben zu kürzen oder aus den Schulden herauszuwachsen, wäre starkes Wachstum vorzuziehen. Keine der beiden Lösungen scheint aber wahrscheinlich.
Rückenwind und Gegenwind: Von KI bis zu alternden Bevölkerungen
Die fiskalische Zukunft der USA und anderer Länder hängt von verschiedenen Faktoren ab – von potenziellen Produktivitätssteigerungen durch KI über alternde Bevölkerungen, Steueränderungen und Verteidigungsausgaben bis hin zu Schwierigkeiten bei der Bedienbarkeit von Schulden durch länger höher bleibende Zinsen. Eine Steigerung des Produktivitätswachstums durch KI bietet Ländern eine Möglichkeit, hohe Schulden und Defizite anzugehen. Die generative KI kann das Werkzeug für makroökonomische Produktivitätsgewinne sein. Eine Analyse von Goldman Sachs Global Investment Research deutet auf ein erhebliches Wachstumspotenzial der generativen KI in den USA hin. Basisschätzungen gehen von einem kumulativen Bruttoanstieg der US-Arbeitsproduktivität und des BIP von bis zu 15 % nach der breiten Einführung der Technologie aus.
Bis auf wenige Branchen ist die Akzeptanz der KI bisher bescheiden. In den kommenden Jahren wird voraussichtlich nicht das Niveau erreicht, das insgesamt für große Produktivitätsgewinne erforderlich wäre. Nach der breiten Einführung früherer Erfindungen wie des Elektromotors (1890) und des PCs (1981) boomte die Arbeitsproduktivität in den USA mit einer jährlichen Wachstumsrate von rund 1,5 %. Der Effekt hielt beim Elektromotor etwa 20 Jahre und beim PC ungefähr 12 Jahre an und belief sich insgesamt auf rund 15 %.12 Diese Phasen führten auch zu einem jährlichen Wachstum des Welt-BIP um 7 % über einen Zeitraum von zehn Jahren. Wenn die generative KI einen ähnlichen Einfluss hat, wäre es realistischerweise möglich, dass die USA aus ihren Schulden herauswachsen.
Quelle: Goldman Sachs Global Investment Research und Goldman Sachs Asset Management. Stand: 15. Juni 2024. Die Grafik zeigt die prozentuale Veränderung der US-Arbeitsproduktivität nach zwei historischen Erfindungen, die die Technik modernisierten. Das vorliegende Dokument dient nur zu Schulungszwecken und ist nicht als Anlageberatung oder als ein Angebot oder eine Aufforderung zum Kauf oder Verkauf von Wertpapieren aufzufassen. Nur zur Veranschaulichung.
Alternde Bevölkerungen und geopolitische Entwicklungen machen es strukturell schwierig, eine finanzierbare Staatsverschuldung zu erreichen. Besonders in den G7-Staaten sind die Geburtenraten niedriger als in den Schwellenländern. Möglicherweise machen diese Faktoren sogar die Auswirkungen von Produktivitätszuwächsen durch die generative KI wett. In den USA sind die sinkende Geburtenrate und die alternde Bevölkerung noch nicht so problematisch wie in anderen G7-Ländern. Dennoch werden so wenig Kinder wie nie zuvor geboren, während die letzten Babyboomer das Rentenalter erreichen. Ein Ungleichgewicht zwischen neuen Arbeitskräften und dem Anteil der Ausgaben für das Sozialbudget wird das Staatsdefizit wahrscheinlich zusätzlich unter Druck setzen. Die immer komplexeren und instabileren geopolitischen Verhältnisse sorgen außerdem dafür, dass Regierungen mehr für den Schutz der Lieferketten und nationalen Sicherheit ausgeben müssen. Ausgabendisziplin im Gesundheitswesen und der Verteidigung können wichtige Komponenten sein, um das Staatsdefizit zu senken und eine finanzierbare Verschuldung zu erreichen.
Blick in die Zukunft
Veränderungen des Staatsdefizits wirken sich auf das Wirtschaftswachstum und die Inflation aus. Daher beeinflussen sie kurzfristig auch die Geldpolitik der US-Notenbank (Fed). Die langfristigen Auswirkungen auf die Zinsen sind schwer vorherzusagen. Ein höheres Defizit kann zu einem größeren Anstieg des Angebots an Staatsanleihen führen und die Laufzeitprämien beeinflussen. Da das Volumen von Staatsanleihenauktionen seit August 2023 steigt, wird die Nachfrage genau beobachtet. Doch die Kennzahlen Bid-to-Cover Ratio und Primary Dealer Takedown entsprechen ihrem langfristigen Durchschnitt. Beide dienen zur Beurteilung des Gleichgewichts von Angebot und Nachfrage. Die dritte Kennzahl, der Schuldenbestand, hat ebenfalls einen unklaren Einfluss auf die Marktzinsen. Letztendlich gehen wir nicht davon aus, dass die Zunahme der US-Staatsverschuldung zu einer strukturell höheren Verzinsung von US-Staatsanleihen führen wird.
Mittelfristig kann sich der fiskalische Ausblick durch die US-Wahlen ändern, aber womöglich weniger als man vielleicht annimmt. Besonders interessant für Anleger und US-Bürger wird das Auslaufen der Steuersenkungen des ehemaligen Präsidenten Trump sein, denn Steueränderungen wirken sich nahezu direkt auf das US-Staatsdefizit und das verfügbare Einkommen aus. Trotz maximal unterschiedlicher Wahlprogramme der Präsidentschaftskandidaten in diesem Jahr werden die Auswirkungen auf das Staatsdefizit voraussichtlich ähnlich sein, egal wer ins Amt kommt.13 Ein Sieg der Republikaner würde voraussichtlich zu einer Verlängerung der Steuersenkungen führen, wodurch der Staat weniger einnimmt, um seine Ausgaben zu finanzieren. Ein Sieg der Demokraten hingegen könnte zu einer ähnlichen Verlängerung der Steuersenkungen oder zu höheren Ausgaben führen. Das würde den Anstieg der Steuereinnahmen nach dem Auslaufen der unter Trump beschlossenen Steuersenkungen wieder ausgleichen.
Insgesamt hat der Fokus auf fiskalische Nachhaltigkeit in Washington in den letzten Jahrzehnten abgenommen und ist auch heute noch gering. Im Vergleich zur Inflation oder geopolitischen Ereignissen findet die Finanzierbarkeit der Schulden auch in der öffentlichen Wahrnehmung nicht besonders viel Aufmerksamkeit. Unter Investoren wird die Diskussion über die Schuldenfinanzierbarkeit jedoch nicht so bald verebben. Fiskalische Nachhaltigkeit ist ein wichtiges Thema, das die Glaubwürdigkeit des US-Dollars und die Fähigkeit der USA, ihre Zukunft zu finanzieren, betrifft. Die USA setzen einen Kurs fort, der irgendwann nicht mehr finanzierbar sein wird. Die einzigartigen Stärken des Landes und die Stellung des Dollars als globale Reservewährung bilden jedoch eine solide Grundlage für die Wirtschaft, selbst wenn das fiskalische Ungleichgewicht zunimmt.
1. Congressional Budget Office (CBO). Stand: Februar 2024.
2. CBO. Stand: Juni 2024.
3. CBO. Stand: Juni 2023.
4. Penn Wharton Budget Model mit Stand vom 6. Oktober 2023.
5. Goldman Sachs Global Investment Research. Stand: 22. Mai 2024.
6. IWF. Stand: April 2024.
7. Goldman Sachs Global Investment Research. Stand: 10. Juni 2024.
8. Federal Reserve Bank of St. Louis. Stand: 14. November 2023.
9. IWF. Stand: April 2024.
10. Goldman Sachs Global Investment Research. Stand: Mai 2024.
11. CBO. Stand: März 2024.
12. Global Investment Research. Stand: 4. Juni 2024.
13. Global Investment Research. Stand: 2. April 2024.